(fettgedruckt sind jeweils im Unterricht nach dem Lehrplan behandelte Materialien/Themen des Fachs Erziehungswissenschaft)
Wilma und Georg Iggers waren beide oft in ihrem Leben gezwungen, die eigene Identität und die verschiedenen sozialen Identitäten ins Gleichgewicht zu bringen und sich gegen Identitäts- und Rollenzuschreibungen und Zwang zur Assimilation und Selbstverleugnung sowie Exclusion, Marginalisierung, [Segregation](http://zweiseitendergeschichte.de/glossar/segregation “von lateinisch segregare, “absondern”, “trennen” steht für Verfahren der Identifikation und der Unterscheidung, beispielsweise der Rassentrennung.”) (Hurrelmann: Lebensphase Jugend), Stigmatisierung (Goffman) etc. zu wehren. Sie mussten wegen ihrer jüdischen Herkunft in Zeiten des Holocaust sich besonders mit ihrer Identität (auch als religiöse und kulturelle Identität) auseinandersetzen und haben in besonderem Maße „selfconsciousness“ (Mead: „me, self, mind, generalised other“) und eine eigene biografische Perspektive im Sinne Krappmanns (Ambiguitätstoleranz, Empathie, roletaking/-making, Rollendistanz, social identity) und Oerters (Selbstdarstellung, Verhandeln..) entwickelt. So kann am Beispiel der sozialen Angepasstheit (Vorsicht) des Vaters von Georg und der Erwartung der amerikanischen Gesellschaft an (jüdische) Minderheiten, sich zu assimilieren das Parson’sche AGIL-Modell und der Strukturfunktionalismus veranschaulicht und wiederholt werden. Der (Adoleszenz-)Konflikt zwischen Georg Iggers und seinem Elternhaus kann mit dem Model der produktiven Realitätsverarbeitung von Hurrelmann (s. 3. und vierte Maxime) bzw. am Modell der Eltern-Kind-Beziehungen nach M. Pinquart („Wenn Kinder erwachsen werden) reflektiert werden. Auch der Aufsatz von Otto Speck: Chaos und Autonomie in der Erziehung, München 1991, S. 130ff) eignet sich evt. dazu. Insbesondere die lebenslange Selbstverpflichtung von Wilma und Georg Iggers zum “Brücken Bauen” – also der Überwindung sozialer, ethnischer, religiöser Vorurteile und Klassenschranken als Konzept sozialer und personaler Identität und Vorbild für Integration verdient eine Würdigung als gelungenes Beispiel aktiver Veränderung gesellschaftlicher Gräben und Konzepte (vergleiche Adorno: Barbarei der Zivilisation) hin zu dem Versuch der Verbesserung menschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Strukturen. Im Sinne Adornos resignieren Iggers nicht vor Indifferenz und Ignoranz ihrer Zeitgenossen, sondern suchen nach Wegen des couragierten Miteinanders. In beruflichem (eaqual rights movement an Schulen und Universitäten in den USA) und persönlichem Engagent nutzen sie besonders die Möglichkeiten von Erziehung und Bildung.
Grundlage für das Unterthema ist der vorliegende Text aus der Biografie von Georg und Wilma Iggers, in dem Georg Iggers seine Sozialisation beschreibt und reflektiert. Zu den Textauszügen können weitere Materialien zur Veranschaulichung und besserem Verständnis herangezogen werden: Fotos, Videos (Interviews), Dokumente. Zudem können die Schüler das Glossar nutzen, um Begriffe zu klären und weitergehende Informationen zu erhalten.
Zu den Materialien der DVD sollen im Unterricht entsprechende Leitfragen bzw. Arbeitsaufgaben entwickelt werden.
Die Hinweise führen zu weiteren Unterthemen, die ergänzend bearbeitet werden können.
Bei der Identitätsentwicklung Georg Iggers sind einige Phasen in der Entwicklung zu unterscheiden:
Der folgende vorliegende Textausschnitt gehört zu Kapitel 2 – Georg Iggers auf der DVD. Hier finden sich auch die folgenden zugehörigen weiteren Materialien.
„Ich wurde am 7. Dezember 1926 in Hamburg in eine jüdische Familie geboren. Meine Vorfahren hatten seit vielen Generationen in Deutschland gelebt. Über die Geschichte der Familien meiner Großeltern weiß ich nur wenig. Der Geburtsname meiner Großmutter „Mela“ lässt vermuten, dass die Familie sephardischen Ursprungs ist und zur Zeit der Judenverfolgung im 16. Jahrhundert nach Deutschland gekommen ist.“
„Mein Großvater väterlicherseits, Gerson Igersheimer, der Ehemann von Lina Mela, ist als Zwölfjähriger mit seinen Eltern 1871 von Bad Mergentheim nach Frankfurt übersiedelt. Da der kleine Ort Igersheim nur zwei Kilometer von Bad Mergentheim entfernt ist, ist es wahrscheinlich, dass die Familie von dort stammt. Meine Mutter Lizzie war eine geborene Minden, und wir wissen, dass die Familie 1720 von Minden nach Lüneburg zog, 1770 dann weiter nach Altona und Mitte des 19. Jahrhunderts nach Hamburg. Urkundlich lässt sich die Familie meiner Großmutter mütterlicherseits, Sophie Minden, geb. Feitler, bis in das 18. Jahrhundert ins Rheinland zurückverfolgen.“
Video (V_0015) - Intro G. Iggers Video (V_0108) - Familiengeschichte Iggers Foto (F_0056) - Georg als Kind 1937 Foto (F_0022) - Das Haus Schrammweg Nr. 4 in Hamburg
Besonderheiten in jüdischen Familiennamen
Informiere Dich im Internet darüber, welche Gründe viele Juden gehabt haben, ihre Familiennamen zu ändern: hier: von Igersheimer in Iggers
Text zur Namensänderung von Igersheimer in Iggers (siehe weiter unten)
jüdische Integration in Europa
„Wie weit die Familien in die allgemeine deutsche Umgebung integriert waren, lässt sich für die Zeit vor Mitte des 19. Jahrhunderts nicht genau rekonstruieren. Wir können annehmen, dass ihre Integration ähnlich verlief wie die der meisten deutschen Juden: dass sie sich also im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend mit der deutschen Kultur identifizierten . So war es üblich, dass Knaben, auch in orthodoxen Familien wie der meines Vaters, zur Bar-Mizwa (der Konfirmation) die deutschen Klassiker Goethe, Schiller, aber auch Lessing und Heine geschenkt bekamen und dass sich ihr Lebensstil weitgehend dem des deutschen Bürgertums anglich.“
Jüdische Integration - Wikipedia
Notiere in Kurzform den Weg der Juden in die Integration
Orientierung an orthodoxem, neuorthodoxem, modern orthodoxem, liberalen, ethnischen Judentum
„In ihrem Verhältnis zur Religion unterschied sich die Familie meines Vaters von der meiner Mutter. Mein Vater wuchs in einem streng orthodoxen Elternhaus in Frankfurt auf, das der so genannten Austrittsgemeinde angehörte.
Diese wurde in den 1840er Jahren von Rabbiner Samson Raphael Hirsch gegründet, der im deutschsprachigen Raum eine Gegenbewegung zu der sich in Deutschland weitgehend durchsetzenden liberalen Richtung einleitete. Hirschs Orthodoxie, später oft auch als Neuorthodoxie oder moderne Orthodoxie bezeichnet, wehrte sich gegen Reformbestrebungen der Liberalen , die Deutsch in den Gottesdienst einführten, die Liturgie vereinfachten und nicht mehr auf der strengen Einhaltung der rituellen Gesetze bestanden. Hirsch forderte die strenge Einhaltung aller Gesetze und Riten. Das Moderne an Hirschs Orthodoxie resultierte aus seiner Überzeugung, dass ein gläubiger Jude gleichzeitig durchaus an der deutschen Kultur teilnehmen könne. Darin unterschied er sich von der ethnischen Auffassung des Judentums, die vorher in Deutschland und weiterhin in Osteuropa dominierte. Unter Hirschs Frankfurter Nachfolger, Rabbiner Josef Breuer, trat die orthodoxe Gemeinde 1871 aus der offiziell anerkannten Frankfurter Religionsgemeinde aus, weil diese in eine liberale Richtung tendierte. Sie unterhielt nicht nur einen getrennten Friedhof, sondern auch eine eigene Schule, die mein Vater von 1900 bis 1909 besuchte.
Die Eltern meiner Mutter in Hamburg waren hingegen religiös indifferent. Sie hielten die Speisegesetze nicht ein und besuchten den Gottesdienst anscheinend nur an den Hohen Feiertagen . Meine Tante berichtete mir, dass die Kinder überhaupt keinen jüdischen Religionsunterricht mehr erhielten und daher sehr wenig über das Judentum erfuhren. Mein Großvater war allerdings sehr aktiv in jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen und in Angelegenheiten der Umsiedlung von Juden aus Russland nach Amerika engagiert. Meine Mutter ging zehn Jahre, von 1910 bis 1920, in eine allgemeine deutsche Mädchenschule. Es ist bemerkenswert, dass ihr Freundeskreis ausschließlich aus jüdischen Mädchen bestand und dass die jüdischen Schülerinnen zusammenhielten, auch weil sie sich ausgegrenzt fühlten. Von den neun Geschwistern meiner Mutter heirateten mehrere nichtjüdische Partner; zwei Schwestern, eine unverheiratet und eine geschieden, wurden zu beinahe fanatischen Mitgliedern der Kirche der Christlichen Wissenschaft . Eine Schwester heiratete einen ultranationalen Protestanten und emigrierte 1919 mit ihm nach Mexiko. 1932 kamen beide nach Deutschland zurück. Hier trat er angeblich in die NSDAP ein. Es gelang den beiden allerdings in den ersten Jahren des NS-Regimes, die jüdische Herkunft meiner Tante zu verheimlichen. Auch ließ er sich nicht von ihr scheiden. Der älteste Bruder wurde ein streng orthodoxer Jude und schaffte es, dass seine Kinder und Enkel auch orthodox blieben, wohingegen die meisten Kinder seiner nominell jüdischen Geschwister sich gänzlich vom Judentum distanzierten, christliche Partner heirateten und ihre Kinder wiederum entweder christlich oder konfessionslos aufwachsen ließen. (siehe.auch: assimilierte Juden )“
Informiere Dich zu folgenden Stichworten im Internet und beziehe die Informationen auf den Text.- Rabbiner Samson Raphael Hirsch
Orientierung am erfolgreichen deutschen Bürgertum
„Die Schulzeit meiner Eltern endete mit der mittleren Reife, wie es in ihren Familien allgemein üblich war. Dieser Abschluss vermittelte ihnen das Bewusstsein, der bürgerlichen Schicht anzugehören. Die Eltern meines Großvaters Gerson Igersheimer betrieben einen Gemischtwarenladen in Bad Mergentheim, bevor sie später nach Frankfurt zogen. Mein Großvater war Besitzer eines Bankgeschäfts, das aber so klein gewesen sein muss, dass er sich dem Vernehmen nach den einzigen Laufjungen noch mit einer anderen Bank im selben Gebäude teilte. Ein Freund meines Vaters gab an, der Großvater sei kurz vor seinem Tod 1913 in Konkurs gegangen. Mein Großvater Max Minden hingegen war - zumindest zeitweise - ungleich erfolgreicher. Er baute ein blühendes Geschäft auf, das landwirtschaftliche Produkte aus Russland nach Deutschland und England importierte. Von 1894 bis 1904 verwaltete er die englische Filiale in Hull, wo mehrere Kinder, darunter auch meine Mutter, geboren wurden. In der nächsten Generation war der Bruder meiner Mutter, Ernst Minden, der erfolgreichste. In der für die Familie schweren Zeit nach 1918 konnte er nicht studieren, arbeitete sich dann aber im Bankgeschäft Max Warburg in Hamburg empor und leitete nach 1933 die Geschäfte der Bank in England.
Mein Vater machte eine Lehre bei der Metallfirma Beer Sontheimer in Frankfurt. 1914 wurde er eingezogen und diente mit einer Unterbrechung auf Grund simulierter Krankheit bis zum Ende des Kriegs. Obwohl er sich als Deutscher fühlte, stand er doch jedem Nationalismus ablehnend gegenüber und sah den Krieg als großes Unglück an, von dem er sich fernhalten wollte. So lavierte er sich durch die Kriegszeit ähnlich dem braven Soldaten Schwejk . Er hat sich stets sehr für Politik interessiert, ohne sich parteipolitisch zu engagieren. Seine Einstellung war demokratisch. In der Weimarer Republik hat er treu von Januar 1919 bis März 1933 die Deutsche Demokratische Partei (1930 in der Deutschen Staatspartei aufgegangen) gewählt. Er fühlte sich als Jude, wollte aber als solcher in keiner Weise auffallen. Er hatte eine bestimmte Vorstellung von bürgerlicher Respektabilität und wollte sich als tüchtiger und erfolgreicher Kaufmann erweisen.
Meine Mutter war ein ganz anderes Naturell als mein Vater, nicht verschlossen, sondern charmant und extrovertiert. Trotzdem teilte sie seinen extremen Puritanismus und seine übertriebenen Vorstellungen von dem, »was sich gehört«. Sie entwickelte kaum eigene Interessen, hielt sich aber auf Grund ihres Realschulabschlusses für gebildet.
In einem diffusen Sinn fühlte sie sich der jüdischen Religion zugehörig, ohne viel über das Judentum zu wissen. Mein Vater hingegen hatte in seinen neun Schuljahren regelmäßig am Religionsunterricht teilgenommen, der allerdings sehr oberflächlich angelegt war und sich auf Auswendiglernen beschränkte. Er kannte die hebräischen Gebete, verstand sie aber nicht.“
Orientierung an jüdischen Regeln, Bräuchen und Festen
„In den ersten Jahren ihrer Ehe führten meine Eltern einen koscheren Haushalt. Ich kann mich noch an die beiden Küchentische erinnern, einen für Fleisch und einen für milchige Speisen. Nachdem mit der NS-Machtergreifung das koscher Schlachten verboten worden war, begannen meine Eltern, neukoscher zu essen; man kaufte das Fleisch im Schlachterladen, mied aber Schweinefleisch und andere vom jüdischen Gesetz verbotene Fleischsorten. Im Hause meiner Tante Martha und meines Onkels Siegfried, wo wir regelmäßig am Freitagabend und an Feiertagen eingeladen waren und das Passah -Abendmahl, den [Seder](http://zweiseitendergeschichte.de/glossar/seder “Als Seder (“Ordnung”) werden die sechs Hauptabteilungen von Talmud und Mischna bezeichnet. In der Regel wird das Wort jedoch als Kurzbezeichnung für den Sederabend des jüdischen Pessach-Festes verwendet. (https://de.wikipedia.org/wiki/Seder)"), feierten, wurden die jüdischen Bräuche jedoch streng eingehalten. Mein Vater ging an hohen Feiertagen und an den Todestagen seiner Eltern in die orthodoxe Bornplatz-Synagoge, blieb aber nur während eines kleinen Teils des langen Gottesdienstes. Anstelle von Weihnachten feierten wir mit Leuchtern, dem Trendelspiel und Nüssen Chanukkah und glaubten an den Chanukkah-Mann. Sehr früh wurde uns Kindern so bewusst, dass wir Juden waren, und wir sprachen darüber ganz unbefangen mit unseren christlichen Spielgefährten.”
Stelle selbst Informationen zu folgenden jüdischen Begriffen zusammen.
koscher Passah, Seder Leuchter Trendelspiel Chanukkah
Integration in die Schulklasse
„Am 3. April 1933, dem Montag nach dem Judenboykott, wurde ich in die Volksschule für Knaben, Knauerstraße 22, in Hamburg-Eppendorf eingeschult. Mein bester Freund, Karl-Heinz Martin, der Sohn des Hausverwalters [der damaligen] Wohnung, war in meiner Klasse. Dass ich Jude war und er Christ - den Ausdruck Arier kannten wir nicht -, wussten wir nur dadurch, dass ich bei ihm Weihnachten und er bei uns Chanukkah feierte.
Ich wusste zunächst kaum, was politisch vorging. Karl-Heinz Martin und ich beobachteten vom Balkon seiner Wohnung aus die Umzüge der Kommunisten und der Nationalsozialisten im Jahre 1932 und den großen sozialdemokratischen Umzug am 1. Mai. Dass es nicht weit von unseren Wohnungen zu blutigen Zusammenstößen zwischen Nazis und Kommunisten kam, erfuhren wir nicht. In der Schule kam es nach und nach zu Veränderungen. Ich kann mich noch erinnern, wie die Hakenkreuzfahne das schwarz-rot-goldene Banner der Weimarer Republik ablöste und der Klassenlehrer uns eines Tages sagte, wir sollten ihm nicht die Hand geben und mit Guten Morgen grüßen, sondern neben unseren Pulten stehen und den Hitlergruß entbieten. Dann kam der Appell jeden Montag auf dem Schulhof mit dem Hissen der Hakenkreuzflagge, der Ansprache des Schulleiters und dem Singen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes .
Von Antisemitismus war in der Schule kaum etwas zu spüren, wohl aber außerhalb der Schule. In den Zeitungskästen auf der Eppendorfer Landstraße hing der »Stürmer« mit seinen hässlichen Karikaturen und Hetzparolen aus, an den Litfaßsäulen hingen antisemitische Plakate. Einmal wurde ich von uniformierten Hitlerjungen mit Messern bedroht und mehrere Stufen vor einem Geschäft hinuntergestoßen, zum Glück ohne mich zu verletzen. In der Schule waren wir uns bewusst, wer bürgerlicher Herkunft und wer Arbeiterkind war, aber es gab deswegen keine Spannungen. Alle vier jüdischen Kinder stammten, wie zu erwarten, aus bürgerlichen Elternhäusern. Ungefähr die Hälfte der Väter meiner Mitschüler war arbeitslos. Ich wurde von meinen Mitschülern akzeptiert.
Der Klassenlehrer Fritz Pohle, Jahrgang 1904, also jung genug, um den Krieg als Kind erlebt, aber zu jung, um an ihm teilgenommen zu haben, machte auf mich einen tiefen Eindruck. Ich war stets unsicher, ob er Nationalsozialist geworden war, auch wenn er wahrscheinlich später dem NS-Lehrerbund hatte beitreten müssen. Er war betont deutschnational und von der Jugendbewegung inspiriert. Antisemit war er nicht und nahm die jüdischen Kinder in Schutz. Als meine Eltern mich im Oktober 1936 also schon sehr spät, aus der Schule nahmen, weil ich in die jüdische Schule gehen wollte, versicherte er ihnen unglaublich naiv, dass dies nicht nötig sei, so lange er an der Schule sei. Als ein Junge aus Flensburg neu in die Klasse kam und antisemitische Bemerkungen machte, sagten ihm meine Klassenkameraden, er solle bloß das Maul halten. Ein Beispiel dafür, wie wenig die Kinder den Ernst der Lage erkannten, war, dass sie mir, als ich Ende 1936 nicht mehr in der Schule war, zuredeten, mich doch wie sie beim Jungvolk zu melden und einfach zu verschweigen, dass ich Jude sei. Ich weiß allerdings von Gesprächen mit jüdischen Altersgenossen aus anderen Städten, dass meine diesbezüglichen Erfahrungen recht untypisch waren, wahrscheinlich auch für Hamburg.
Mit dem Antisemitismus wurden wir allerdings alltäglich konfrontiert. Nicht nur gab es immer mehr Geschäfte mit dem Aushang »Juden unerwünscht«, auch das Schwimmbad an der Görnestraße, zwei Ecken von unserer Wohnung entfernt, wo ich leidenschaftlich gern schwimmen ging, informierte eines Tages mit einem Schild, dass Juden nicht mehr zugelassen seien . Andererseits blieben die Besitzer der kleinen Kolonialwaren- und Gemüseläden in unserer Straße, wo wir regelmäßig einkauften, unverändert freundlich. Unsere Hausverwalter im Schrammsweg, Herr Motzek und seine Frau, verhielten sich fast demonstrativ freundschaftlich und nahmen meine Schwester und mich am Wochenende oft mit in ihren Schrebergarten.
In Fritz Pohles Unterricht war nur schwer zu unterscheiden, was davon vom Nationalsozialismus und was von der Jugendbewegung geprägt war. Der verlorene Erste Weltkrieg spielte eine große Rolle. In unserem Klassenzimmer hingen zwei große Landkarten, eine mit den verlorenen Gebieten und der Aufschrift »Was wir verloren haben« sowie eine, die die angebliche Einkreisung Deutschlands mit seinem nur 100.000-Mann-Heer zum Thema hatte. An der Wand hingen die Aufschrift »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« und das Porträt Hitlers, und bis zu Hindenburgs Tod 1934 auch das seine. Das Militär und der angebliche Heroismus deutscher Soldaten und Matrosen im Ersten Weltkrieg wurden verherrlicht. Dazu kamen Elemente aus der Jugendbewegung : das Wandern mit Wimpeln, das Singen, die Lagerfeuer. Mindestens einmal im Monat machten wir einen Klassenausflug raus in die Natur oder zum Bismarck-Haus in Friedrichsruh bei Hamburg."
Dokument (d_0013) - Ehrenmitgliedschaft im Dt. Pfadfinderbund für G. Iggers (15. April 1974) Dokument (d_0012) - Aufnahmeverzeichnis der Knabenschule Knauerstraße (1933) Glossar: (g_0006) - NS-Machtergreifung 1933 Glossar (g_0010) - Nürnberger Gesetze Glossar (g_0004) – Antisemitismus Video: (V_0045) - 1933 Hakenkreuzfahne Video (V_0048) - Überfall von HJ Jungs Video (V_0010) - Besuch Bornplatz 2005 Video (V_0008) - Schwimmbad an der Görnestraße - Hallenbadverbot 1935 Foto (F_0055) - Postkarte Holthusenbad 1935 Foto (F_0008) - Knabenschule Knauerstr. Foto (F_0018) - NS-Machtergreifung
Beurteile Georg Iggers Integration in die Schulklasse und bewerte die zunehmenden Probleme durch den nationalsozialistischen Einfluss. > vergl. Herbert Mead, Krappmann
Informiere Dich ergänzend zu folgenen Themen:
NS-Machtergreifung Judenboykott Volksschule für Knaben, Knauerstraße 22, Hamburg-Eppendorf Horst-Wessel-Lied “Der Stürmer” Hitlerjugend NS-Lehrerbund Jugendbewegung, bündische Jugend
Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Judentum - Identifikation mit dem Judentum – Wechsel in die Talmud-Tora-Schule
„Ich hatte in dieser Zeit Kontakt mit der jüdischen Jugendbewegung , und die Erfahrungen dort überschnitten sich in mancherlei Hinsicht mit den Erlebnissen in meiner Volksschulklasse. Da ich an dem allgemeinen protestantischen Religionsunterricht nicht teilnahm, erhielt ich Privatstunden von Kantor Lieber, dem späteren Rabbiner der Emigrantengemeinde Habonim in New York. Der Unterricht, der Hebräisch, biblische Geschichte und jüdische Bräuche und Gebete einschloss, fesselte mich. Die Sommerferien 1934,1935 und 1936 verbrachte ich tagsüber in einem orthodox ausgerichteten jüdischen Sommerlager, in dem ich zum ersten Mal auch Kinder aus armen jüdischen Familien kennen lernte. Einen großen Teil meiner sonstigen Freizeit verbrachte ich in dem zionistischen Turnverein Bar Kochba und lebte also sowohl in einer christlichen als auch in einer jüdischen Umwelt.
Judentum bedeutete damals für mich Orthodoxie und Zionismus, zwei Richtungen also, die ich unter meinen Jugendkameraden zwar jeweils vorfand, die jedoch nicht unbedingt zusammengehören. Hinzu kam eine bestimmte antibürgerliche Einstellung, die sowohl unter meinen christlichen Mitschülern als auch unter meinen jüdischen Altersgenossen vorherrschte. Die Freitagabend-Aufenthalte in der Familie meines Onkels Siegfried und meiner Tante Martha hinterließen bei mir einen tiefen Eindruck. Bald begleitete ich meinen Onkel regelmäßig am Samstagmorgen zur Bornplatz-Synagoge. Er war auch der einzige Verwandte, mit dem ich über die Probleme mit meinen Eltern sprechen konnte. Sein älterer Sohn Ernst war 1933 kurz nach seinem Abitur von den Nazis wegen Zugehörigkeit zu einer linken Gruppierung verhaftet worden und dann gleich nach seiner Freilassung nach Holland emigriert. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Nazis trat er später dem niederländischen Widerstand bei, wurde gefasst und in Auschwitz zu Tode gebracht. Die beiden jüngeren Kinder waren überzeugte Zionisten. Herbert, später Gerschon, ging 1935 als Siebzehnjähriger in ein Kibbuz in Palästina . Die engste Verbindung hatten meine Schwester und ich aber mit seiner Schwester Ruth, von uns Maus genannt, 1920 geboren, die sehr viel Zeit mit uns verbrachte, uns dabei auf die jüdischen Feiertage vorbereitete und uns auch die ethischen Grundsätze des Zionismus vermittelte. Ich sah mich mehr und mehr als Jude denn als Deutscher."
„Obwohl ich mich bis dahin in der Schule in der Knauerstraße wohl gefühlt hatte, beschloss ich im Herbst 1936, in die jüdischorthodoxe Talmud-Tora-Schule überzuwechseln. Zu Hause ließen mich meine Eltern in meiner Orthodoxie gewähren, auch wenn es ihnen nicht angenehm war. Da koscheres Fleisch zu der Zeit schwer erhältlich war, aß ich bis zu unserer Auswanderung kaum noch Fleisch. Kurz nachdem ich begonnen hatte, die Talmud-Tora-Schule zu besuchen, wurde ich eingeladen, im Knabenchor der Bornplatz-Synagoge mitzusingen. Ich wollte der Einladung unbedingt folgen, aber meine Eltern verboten es mir, ohne mir einen guten Grund dafür zu nennen. Viele meiner Klassenkameraden gehörten der Jugendgruppe des religiösen zionistischen Verbandes »Misrachi« an. Die nichtjüdischen Jugendverbände waren nach 1933 größtenteils aufgelöst und teilweise in die Hitlerjugend integriert worden, die jüdischen Bünde bestanden jedoch bis zum Novemberpogrom 1938 fort. Es gab verschiedene Richtungen, zionistische und nicht zionistische, religiöse und weltliche, bürgerliche und sozialistische. Was sie untereinander und auch mit der nichtjüdischen Jugendbewegung verband, waren die Ideale des Wandervogels , ihre bündische Struktur, die Verherrlichung des Naturerlebens, das Wandern, die Lagerfeuer, das Singen, die Kameradschaft und die Abneigung gegen die »muffige« bürgerliche Gesellschaft. "
„Mein Ideal war der Kibbuz. Fünf Hefte, die ich »Palästina« betitelte und in die ich zwischen 1937 und 1938 Artikel und Fotografien aus jüdischen Zeitungen und Kalendern einklebte und die ich immer noch besitze, belegen, wie ich den Zionismus damals auffasste. Eine der Fotografien zeigte besonders klar das ideale Menschenbild der zionistischen Pioniergeneration: den neuen Menschen, der die Büros und Universitätsbänke der großstädtischen Diaspora verlassen hatte und jetzt auf der Scholle seiner jüdischen Heimat mit den eigenen Händen arbeitete. Das war die nationale jüdische Agrarromantik , die so oder ähnlich auch in der nichtjüdischen Jugendbewegung und schließlich in pervertierter Form auch in der HJ vorzufinden war. Wir wandten uns nachdrücklich gegen die bürgerliche Welt unserer Eltern. Gegen den ausdrücklichen elterlichen Wunsch schloss ich mich insgeheim der Misrachi-Gruppe für Zehn- und Elfjährige an, die von einem siebzehnjährigen Jungen betreut wurde. Wir diskutierten, lernten, beteten miteinander, hörten uns Rabbiner Joachim Prinz’ Ausführungen über die Zukunft Palästinas an und trafen uns mit dem Hamburger Oberrabbiner Josef Carlebach . Als die Gruppe eine Wanderung in die Umgebung von Hamburg unternahm, verboten mir meine Eltern strengstens, mich daran zu beteiligen. Da sie jedoch in der Regel nichts dagegen einzuwenden hatten, wenn ich längere Spaziergänge machte - ich fuhr leidenschaftlich gern mit der Hochbahn in entlegene Hamburger Stadtviertel, um sie zu erkunden, und war dann oft mehrere Stunden von zu Hause weg, ohne dass meine Eltern sich diesbezüglich Sorgen machten -, beschloss ich, die Gruppe, die schon unterwegs war, zu suchen, und fand sie schließlich auch. Ich schämte mich, dem Betreuer zu gestehen, dass ich eigentlich nicht mitdurfte, und verschwieg später meinen Eltern, wo ich gewesen war."
Glossar (g_0009) - Synagoge Glossar (g_0003) - Rabbiner Glossar (g_0028) - Talmud Tora – Schule Video (V_0089) - Interesse am Judentum Video (V_0083) - Talmud Thora Schule Video (V_0086) - Unterschiede der Schulen in Hamburg
Ergänze Informationen zu folgenden Begriffen:
Talmud-Tora-Schule koscher Misrachi jüdische Bünde Hitlerjugend Novemberpogrom 1938 Wandervogel bündische Jugend jüdische Agrarromantik Josef Carlebach Kibbuz
Stellt arbeitsteilig zusätzliche Informationen zu den oben versammelten Stichworten zusammen.
Stelle dar, wie Georg Iggers seine Umwelt und seine Beziehung zu Eltern, Verwandten und Klassenkameraden wahrnimmt, sich an Vorbildern orientiert, bisher gültige Werten in Frage stellt und zu eigenen Anschauungen gelangt. (verwende dazu auch folgende Textstellen). > mögl. Bezug z.B. H. Mead
Konflikt mit und Ablösung von den Eltern - Wechsel an das “Israelitische Waisenhaus mit Erziehungsanstalt« in Esslingen am Neckar“ und Vorbereitung auf die Emigration
„Im Herbst 1937 erreichte mein Konflikt mit meinen Eltern einen Höhepunkt. Mich störte nicht nur ihr autoritäres Verhalten an sich, sondern mehr noch die Willkür ihrer Entscheidungen. Während einer Auseinandersetzung mit meinem Vater pöbelten wir uns gegenseitig an, und er prügelte mich. In meiner Wut zerschlug ich die Glasscheibe der Wohnungstür, woraufhin bald Polizisten eintrafen, die auf Grund des Lärms alarmiert worden waren. Zwar verhielten sie sich korrekt, nutzten allerdings den Anlass dazu, die Bücherschränke nach möglichen verbotenen Schriften zu durchsuchen. Ich war durch diesen Vorfall so aufgewühlt und deprimiert, dass ich mehrere Tage lang die Schule schwänzte und stattdessen in der Stadt herumstromerte.
Im Dezember 1937, kurz nach meinem 11. Geburtstag, schickten mich meine Eltern in das »Israelitische Waisenhaus mit Erziehungsanstalt« in Esslingen am Neckar."
Foto (F_0057) - Israelitisches Waisenhaus mit Erziehungsanstalt 1937 Foto (F_0058) – Kindergruppe Foto (F_0059) - Landwirtschaftl. Unterricht Video (V_0097) - Esslingen Schock Video (V_0098) - Spartanische Unterkunft Video (V_0099) - Verhältnis Schüler-Lehrer Video (V_0088) - Beziehung zu Palästina Video (V_0101) - „Juden unerwünscht“ Dokument (d_0011) - Pogromstimmung in Esslingen (09.11.1938)
Ergänze Informationen zu folgenden Begriffen:
Theresienstadt Weimarer Republik Theodor Rothschild
„Zuerst empfand ich diese Verbannung als einen Schock; aber sehr bald fühlte ich mich dort wohl und wie befreit. Das Internat war um 1830 als Waisenhaus gegründet worden. 1899 hatte der damals fünfundzwanzigjährige Theodor Rothschild die Leitung übernommen, die er bis zur Auflösung der Schule durch die Nazis 1939 beibehielt. Sein Versuch, die Schule nach Amerika zu verlegen, scheiterte, und er kam 1942 in Theresienstadt um. Die wenigsten der Pfleglinge - ungefähr sechzig Jungen und zwanzig Mädchen - waren Waisen, einige galten als schwer erziehbar, worunter man mich wohl auch rechnete. Etliche Kinder kamen aus kleineren Ortschaften Württembergs, wo sie die Schule nicht mehr besuchen konnten. Bei anderen waren die Eltern bereits emigriert oder standen im Begriff, dies zu tun, und wollten ihre Kinder nachkommen lassen.
Trotz ihres Namens war die Schule viel offener und schülerfreundlicher organisiert als die Talmud-Tora in Hamburg oder die Volksschule in der Knauerstraße. Den Rohrstock, der in der Knauerstraße mit dem Ende der Weimarer Republik wieder eingeführt worden war, oder die Ohrfeigen, die in der Talmud-Tora verteilt wurden, gab es in Esslingen nicht. Die zwei Lehrer und die Lehrerin waren sämtlich unter dreißig, sportlich - die Lehrerin war deutsch-jüdische Tischtennismeisterin - und hatten ein noch weit besseres Verhältnis zu den Schülern als Herr Pohle, der stets auf strenger Disziplin bestanden hatte. Die Lehrkräfte wohnten mit uns im selben Haus, wie auch Herr Rothschild, der allerdings bei den Mahlzeiten an einem separaten Tisch saß, besser verpflegt und allgemein als Respektsperson behandelt wurde. Die Schule war in einem sehr schönen Gebäude auf dem Berg gleich oberhalb der Burg untergebracht. Der Unterricht war stärker praxisorientiert als in der Realschulabteilung der Talmud-Tora-Schule in Hamburg. Die schulischen Ansprüche insgesamt waren allerdings niedriger, so dass ich bald von der sechsten Klasse, die ich in Hamburg besucht hatte, in die siebte versetzt wurde. Viele Heimschüler stammten aus ärmeren Familien, die nicht unbedingt darauf aus waren, ihre Kinder das Abitur machen zu lassen. "
Video (V_0049) - Emigration 1936-38
Ergänze Informationen zu folgenden Begriffen
Novemberpogrom KZ Dachau
„Während meiner Zeit in Esslingen zielte der Unterricht darauf ab, die Kinder auf die Emigration vorzubereiten, wobei die Vermittlung handwerklicher und landwirtschaftlicher Kenntnisse im Vordergrund stand. Besonders unter Zionisten herrschte damals die Auffassung vor, Juden in der Diaspora hätten zu lange vorwiegend kaufmännische und intellektuelle Berufe ausgeübt. Diese negative Einschätzung traditioneller und besonders intellektueller jüdischer Berufstätigkeit erwies sich in der Emigration und später auch in Israel als falsch, wo in zunehmend technisierten Gesellschaften ein hoher Grad an Ausbildung erforderlich war. Auch in Esslingen war viel vom romantischen Geist der Jugendbewegung spürbar. Sport spielte eine wichtige Rolle. Wir durchwanderten mit den Lehrern die schwäbische Landschaft und sangen hebräische Pionierlieder. Unser Heim wurde orthodox geführt, und das hieß damals, dass es kaum Fleisch zu essen gab. Jeden Morgen und Abend sowie vor und nach dem Essen wurde gebetet. Verpflegung und Unterkunft waren spartanisch, aber das hat mich nicht gestört. Mit der Umgebung hatten wir wenig Kontakt. Einmal kam es allerdings vor der Burg zu einer Schlägerei mit nichtjüdischen Jungen. Als von der möglichen Umsiedlung nach Amerika gesprochen wurde, hoffte ich sehr, dass ich mitkommen könnte. Ich wollte nicht mehr nach Hause zurück. Während der ganzen Zeit meines Aufenthalts in Esslingen haben meine Eltern mich nicht ein einziges Mal besucht, und ich verbrachte nicht einen Ferientag in Hamburg. Allerdings bekam ich häufig Post von zu Hause. Anfang September 1938, einige Wochen vor unserer Emigration, kam ich nach Hause. Ich hatte so das Glück, dem Novemberpogrom zu entrinnen, von dem mir dann mein Lehrer Albert Jonas später berichtete. Eine Schlägerbande in Zivil war am 10. November zur Mittagszeit in das Heim eingedrungen, hatte die beiden männlichen Lehrer Jonas und Samuel vor den Kindern verprügelt und sie dann nach Dachau verschleppt. Beide wurden Anfang Januar 1939 wieder entlassen, als Jonas die Einreise nach Schweden und Samuel nach England gestattet worden war.
Meine Eltern dachten zum ersten Mal im Frühjahr 1936 an die Emigration . Bis dahin hatten sie angenommen, dass sich das NS-Regime nicht lange würde halten können. Als aber Frankreich und Großbritannien nicht auf die deutsche Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 reagierten, wussten sie, dass es Zeit war, Deutschland zu verlassen."
Beschreibe die Veränderung, die mit Georg Iggers stattgefunden hat => Ablösung von den Eltern und Entwicklung eines Selbstkonzepts/einer eigenen Identität.
Emigration in die USA
Glossar (g_0027) - Jom Kippur Foto (F_0020) - MS Champlain Foto (F_0023) - Fam. Iggers in Richmond 1940 Video (V_0069) - Schule USA Richmond
„Im März 1938 nahm mein Vater, ziemlich verzweifelt gestimmt, an einer vom Israelitischen Familienblatt veranstalteten Informationsreise in die USA teil.
Mein Vater fuhr zurück nach Deutschland und stellte den Antrag auf ein amerikanisches Visum. Am 5. Oktober, Jom Kippur , erhielten wir das Visum, und am 7. Oktober fuhren wir mit der Bahn nach Holland. Wir konnten wenig mitnehmen, nur eine Kiste, die unter Aufsicht von Zollbeamten verpackt und uns nachgeschickt wurde. Wir fuhren mit der MS Champlain der French Line aus Southampton, weil diese noch deutsche Währung akzeptierte und uns auch ein kleines Bordgeld in Dollar auszahlte. Allgemein durfte man nur zehn Reichsmark ausführen. Von Hamburg fuhren wir zuerst nach Den Haag, wohin meine Tante Martha und mein Onkel Siegfried im Frühjahr emigriert waren. An der Grenzstation Bentheim wurden wir noch einer Schikane ausgesetzt. Wir mussten aussteigen, unsere Koffer wurden durchwühlt, und der Puppe meiner Schwester wurde der Kopf abgerissen, um zu sehen, ob dort Devisen versteckt waren, bevor wir weiterfahren durften. Wir verbrachten den Sabbat bei meiner Tante und meinem Onkel. Alle ihre Kinder waren da; Gerschon war aus Palästina gekommen. Auch die christliche Haushälterin der Familie, die seit 1913 bei ihr gedient hatte, war aus Hamburg angereist. Am Samstagabend fuhren wir dann weiter nach Woking, südlich von London, wo mein Onkel Ernst und seine Familie ein größeres Haus besaßen. Es war überfüllt mit neu angekommenen Flüchtlingen. Onkel Ernst hatte alle möglichen Leute aus Deutschland als Hausangestellte untergebracht oder ihnen entsprechende Stellen vermittelt, weil das damals eine der wenigen Möglichkeiten war, eine Einreisebewilligung nach England zu bekommen. Eine Woche später ging es dann weiter nach New York, wo wir am 20. Oktober landeten. Wir wurden in einer Wohnung in Washington Heights im Nordwesten Manhattans untergebracht, wo viele Emigranten aus Deutschland sich seit 1933 angesiedelt hatten, so dass man auch spaßhalber vom Vierten Reich oder von Frankfurt on the Hudson sprach. Wir bewohnten zwei Zimmer bei einer Emigrantenfamilie und konnten dort auch preisgünstig mit essen."
Beschreibe, wie Georg Iggers bisherige Lebensvorstellungen ins Wanken gebracht werden.
Identität – Marginalisierung - Wechsel des jüdischen Familiennamens
„Die Familie Mela, die in einem vornehmen Vorort von New York wohnte, nahm meine achtjährige Schwester zu sich und meldete sie unter dem Namen Lena Iggers an, weil - so erklärten sie meinen Eltern - der Name Igersheimer zu unamerikanisch klinge. Wie ich wohl zu Recht vermutete, ging es ihnen dabei wohl weniger darum, dass der Name zu deutsch, als dass er zu jüdisch sei. Meine Eltern sahen sich vor vollendete Tatsachen gestellt, widersprachen jedoch nicht, weil besonders mein Vater in einem neuen Land nicht auffallen wollte; ihre jüdische Herkunft wollten sie gleichwohl nicht verleugnen. Ich aber war empört und führte den Namen Igersheimer in der Schule weiter. Mehrere Jahre später, kurz vor meinem High-School-Abschluss, änderte die Schule auf Wunsch meiner Eltern meinen Namen auf George Iggers. Da dies sämtliche Unterlagen betraf und auch meine Immatrikulation an der Universität Richmond auf diesen Namen ausgestellt war, blieb mir nichts anderes übrig als nachzugeben. Ein amerikanischer Bekannter, der Deutsch konnte, witzelte später, ich sei nach meiner Vertreibung aus Deutschland nicht nur heimat-, sondern auch heimerlos geworden."
Welchen Einfluss haben die Ereignisse (Emigration, Marginalisierung) auf die Persönlichkeitsentwicklung und das Selbstbild Georg Iggers. In welche Krise gerät er, welche Antworten findet er? (vergleiche dazu auch folgende Textabschnitte)
Beurteile seine Situation mit entsprechenden Aussagen von Sozialisationstheoretikern. (Hurrelmann, Krappmann)
Apartheid in den USA und Identifikation mit dem Antirassismus
Video (V_0052) - Rassentrennung Südstaaten Glossar - Rassentrennung
„Ich traf [in Richmond, USA] auf Apartheidspraktiken , die mich an Nazideutschland erinnerten. Ich hatte Deutschland noch kurz vor dem Novemberpogrom verlassen können, zu einem Zeitpunkt also, als die alltägliche Diskriminierung von so genannten Nichtariern bis hin zum Verbot der Nutzung öffentlicher Einrichtungen (Parks, Kinos, Schwimmbäder, Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken, Gaststätten usw.) in vollem Gange war. Ich identifizierte mich also ganz und gar mit der schwarzen Bevölkerung. Ihre anhaltende Demütigung bedrückte mich. Sie wurden nie mit Mr. oder Mrs. angesprochen, nur mit dem Vornamen, erwachsene schwarze Männer wurden »boys« genannt. In der Zeitung stand hinter ihren Namen »negro« oder »colored«, ähnlich dem Ausdruck »Volljude« im nationalsozialistischen Deutschland. Es gab getrennte Toiletten für »white gentlemen« und »colored men«, »white ladies« und »colored women«. Mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel Lehrern, Anwälten und Geistlichen, die ausschließlich in der schwarzen Gemeinschaft selbst tätig waren, waren Schwarze auf niedrige Dienstleistungen festgelegt."
Beurteile Georg Iggers Situation vor dem Hintergrund des Themas: Interkulturelle Gesellschaft
Erläutere die Situation der Afroamerikaner in den USA mit der Kritik Seyran Ateş am Konzept der multikulturellen Gesellschaft
Weitere Hinweise zur schnellen Information… Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Seyran_Ate%C5%9F Link: https://de.wikipedia.org/wiki/ Interkulturelles_Lernen Grundlageninformationen dazu in: Kursbuch Erziehungswissenschaft, Cornelsen Schulverlage GmbH, Berlin
Die Sozialisation Georg Iggers in derJugendzeit wirkte sich stark auf seine Persönlichkeit als Erwachsener aus, beispielsweise in seinem späteren Engagement in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung für “equal rights” besonders in Schulen und Universitäten. Auch seine wissenschaftlichen Kontakte z.B. in die damalige DDR, nach Japan und China sowie die Wiederkehr nach Deutschland sind Beispiele dafür. Georg und Wilma Iggers geben ihre Erfahrungen ihrer Sozialisation auch in hohem Alter an Jugendliche in vielen Ländern in Diskussionen an Schulen weiter.