In seinen Beziehungen zu anderen Menschen, auch uns Kindern, wirkte er sehr gehemmt. Er fühlte sich als Jude, wollte aber als solcher in keiner Weise auffallen. Er hatte eine bestimmte Vorstellung von bürgerlicher Respektabilität und wollte sich als tüchtiger und erfolgreicher Kaufmann erweisen. In den ersten Jahren seiner Selbstständigkeit, 1925 bis 1929, ging es ihm einigermaßen gut, danach jedoch nie wieder. Anscheinend verlor er viel Geld an der Börse. Sein Hamburger Wiedergutmachungsanwalt zeigte mir 1962 seine Steuererklärungen aus den Jahren 1929 bis 1933, aus denen hervorging, dass er sich und die Familie nicht hatte ernähren können und auf Unterstützung angewiesen gewesen war, sehr wahrscheinlich von seinem Schwager Ernst Minden. Nach 1933 ging es ihm dann auf Grund des wirtschaftlichen Aufschwungs unter Hitler bis kurz vor der Emigration 1938 paradoxerweise wieder etwas besser.
Seine Hoffnung, sich in Amerika wieder selbstständig machen zu können, erwies sich als illusorisch. Zweitausend Dollar, die er illegal aus Deutschland herausgeschafft hatte, waren rasch verbraucht, und Ernsts Bemühungen, ihm eine kaufmännische Stelle zu verschaffen, zerschlugen sich. Der Anfang in Amerika, den er in Briefen an seinen Jugendfreund Adolf Mayer-Sommer in Zürich beschrieb, die dieser uns nach dem Tode meines Vaters zur Verfügung stellte, war sehr schwierig und auch erniedrigend. Fünf Jahre lang hatte er eine sehr schlecht bezahlte untergeordnete Arbeit als Buchhalter in Richmond, die ihn erneut zwang, Unterstützung anzunehmen. In vielerlei Hinsicht war es ein Glück, dass er 1944 diese Stelle verlor und von einer deutschjüdischen Firma in New York als Handlungsreisender angestellt wurde. Diese Position gab ihm mehr Freiheit und Einkommen, war aber äußerst strapaziös, da er den ganzen amerikanischen Südosten mit schweren Koffern per Bus bereisen musste und oft monatelang von zu Hause abwesend war. Obwohl wir ihn nach dem Tod meiner Mutter 1968 einluden, doch nach Buffalo zu ziehen, bestand er darauf, weiter zu arbeiten. Erst mit 79 Jahren nahm er unsere Einladung an. Er ist zeit seines Lebens nie wieder in Deutschland gewesen, auch unseren Vorschlag, uns in Göttingen zu besuchen, schlug er aus.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 54 f – Georg Iggers