Im Herbst 1962 bot mir Jack Roth noch einmal die Stelle an der Roosevelt University in Chicago an, und ein guter Freund, der liberal-katholische Historiker Edward Gargan, vermittelte Wilma eine Stelle an der jesuitischen Loyola University, ebenfalls in Chicago. Diesmal nahmen wir die Angebote an. Nachdem die gesetzlichen Barrieren der Abschaffung der Rassentrennung im Süden gefallen waren, mussten die Auseinandersetzungen jetzt auf einer anderen Ebene fortgeführt werden, und zwar gleichermaßen im Norden wie im Süden. Es ging jetzt um ökonomische und soziale Formen der Diskriminierung, um die fortbestehende De-facto-Ungleichheit, die viel schwieriger zu bekämpfen war.
Anfang September 1963 kamen wir in Chicago an. Zum ersten Mal konnte ich mich in der Lehre auf moderne europäische Geschichte konzentrieren und musste nicht auch Einführungsvorlesungen zur amerikanischen Geschichte anbieten. Wilma bot an der Loyola University, unfern der Roosevelt University gelegen, nicht nur Sprach-, sondern auch (graduate) Literaturkurse an. Die Bibliotheken lagen für uns sehr günstig, für uns beide die Bibliothek der University of Chicago und für mich die Newberry Library, fünf Minuten zu Fuß von der Loyola University, wo Hans Baron, ein Schüler von Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke, als stellvertretender Direktor gerade die Sammlung von Büchern und Zeitschriften angeschafft hatte, die ich für meine Arbeit über den deutschen Historismus brauchte.
Ich nahm gleich wieder Kontakt zur NAACP in Chicago auf und kam in die Beratungsgruppe. Aber die Situation in Chicago war anders als in Little Rock oder New Orleans. Die Chicagoer NAACP war viel größer und hatte enge Verbindungen zur Demokratischen Partei. In vielerlei Hinsicht war ich ein Außenseiter. Auch war die Lage in Bezug auf das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen viel undurchsichtiger als im Süden. Das Ziel war immer noch die Gleichberechtigung aller amerikanischer Bürger, aber die Verwirklichung der Gleichberechtigung auf sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene erwies sich als kompliziert. Da ich mich in der NAACP nicht aktiv beteiligen konnte, schloss ich mich den »Teachers for Integrated Schools« an und wurde Mitherausgeber ihres Informationsdienstes »The Chicago School Integration News«.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 165 – Georg Iggers