Wie in den meisten amerikanischen Liberal Arts Colleges war das Ziel des Unterrichts weniger eine auf einen Beruf gezielte Ausbildung als das Studium generale. Viel von dem, was in europäischen Gymnasien zum Stoff der Oberstufe gehört, wurde hier in den ersten zwei Jahren nachgeholt.
Ich fand das Studium anregend. Ich hatte das Glück, in meist kleinen Veranstaltungen unterrichtet zu werden, weil nur wenige Studenten Französisch oder Spanisch als Hauptfächer wählten. Im Januar 1943 wurden die meisten männlichen Studenten eingezogen; da ich erst sechzehn Jahre alt war, gehörte ich nicht dazu. Bis auf meine Kurse in den Naturwissenschaften fanden fast alle meine Veranstaltungen im Westhampton College statt, wo ich mit Ausnahme der Philosophiekurse, die von nicht eingezogenen Theologiestudenten besucht wurden, der einzige männliche Student war.
Wie wurde ich akzeptiert? Von direktem Antisemitismus spürte ich nichts. Allerdings hatten die studentischen Verbindungen (fraternities) alle so etwas wie einen Arier-Paragraphen. Es gab zwar auch eine jüdische Verbindung, der es anscheinend aber nie einfiel, mich als Mitglied gewinnen zu wollen. Ich wäre ihr auch nicht beigetreten, weil ich Verbindungen grundsätzlich für undemokratisch hielt. Auf Grund dieser Einstellung wurde ich von vielen Kommilitonen als Außenseiter angesehen, als komischer Kauz, der eben anders war. Ich war nicht gänzlich unschuldig daran, weil ich mich nicht in die Gepflogenheiten des Studentenlebens einfügte und sogar gegen einige rebellierte. So etwa bei der so genannten »Freshman Initiation«, der »Einweihung« der neuen Studenten. An amerikanischen Colleges war es damals üblich, dass die Studenten im ersten Studienjahr, die so genannten Freshmen (frogs), sich von den Sophomores (Studenten des zweiten Studienjahres) demütigen und schikanieren lassen mussten. Sie hatten eine besondere Mütze zu tragen, die sie jedes Mal abnehmen mussten, wenn sie einem Sophomore begegneten. Ich rebellierte nicht nur gegen das Tragen der Mütze, sondern auch gegen die Unterdrückung durch die Sophomores und organisierte eine Gruppe von Freshmen, die entschlossen waren, sich gegen diese Behandlung zu wehren. Einige Tage darauf wurde ich mitten in einer großen Physikvorlesung von mehreren kräftigen Sophomores aus der Aula herausgeholt und in die Turnhalle abgeführt, wo ich Schläge auf das Hinterteil bekam und mir eine Mahnung vom Präsidenten des Sophomore-Jahrgangs anhören musste: Ich sei kein richtiger Amerikaner und habe kein Verständnis für amerikanische Sitten und Gebräuche. Der Physikdozent, Professor Loving, bereits der Emeritierung nahe, der stolz auf seine Herkunft aus dem Hinterland von Virginia war und die Redensarten und Anschauungen dieser engen Welt beibehalten hatte, protestierte nicht, als die Studenten in den Saal kamen; wahrscheinlich war er vorher eingeweiht worden.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 76 f – Georg Iggers