Von Antisemitismus war in der Schule kaum etwas zu spüren, wohl aber außerhalb der Schule. In den Zeitungskästen auf der Eppendorfer Landstraße hing der »Stürmer« mit seinen hässlichen Karikaturen und Hetzparolen aus, an den Litfaßsäulen hingen antisemitische Plakate. Einmal wurde ich von uniformierten Hitlerjungen mit Messern bedroht und mehrere Stufen vor einem Geschäft hinuntergestoßen, zum Glück ohne mich zu verletzen. In der Schule waren wir uns bewusst, wer bürgerlicher Herkunft und wer Arbeiterkind war, aber es gab deswegen keine Spannungen. Alle vier jüdischen Kinder stammten, wie zu erwarten, aus bürgerlichen Elternhäusern. Ungefähr die Hälfte der Väter meiner Mitschüler war arbeitslos. Ich wurde von meinen Mitschülern akzeptiert. Der Klassenlehrer Fritz Pohle, Jahrgang 1904, also jung genug, um den Krieg als Kind erlebt, aber zu jung, um an ihm teilgenommen zu haben, machte auf mich einen tiefen Eindruck. Ich war stets unsicher, ob er Nationalsozialist geworden war, auch wenn er wahrscheinlich später dem NS-Lehrerbund hatte beitreten müssen. Er war betont deutschnational und von der Jugendbewegung inspiriert. Antisemit war er nicht und nahm die jüdischen Kinder in Schutz. Als meine Eltern mich im Oktober 1936, also schon sehr spät, aus der Schule nahmen, weil ich in die jüdische Schule gehen wollte, versicherte er ihnen unglaublich naiv, dass dies nicht nötig sei, so lange er an der Schule sei. Als ein Junge aus Flensburg neu in die Klasse kam und antisemitische Bemerkungen machte, sagten ihm meine Klassenkameraden, er solle bloß das Maul halten. Ein Beispiel dafür, wie wenig die Kinder den Ernst der Lage erkannten, war, dass sie mir, als ich Ende 1936 nicht mehr in der Schule war, zuredeten, mich doch wie sie beim Jungvolk zu melden und einfach zu verschweigen, dass ich Jude sei. Ich weiß allerdings von Gesprächen mit jüdischen Altersgenossen aus anderen Städten, dass meine diesbezüglichen Erfahrungen recht untypisch waren, wahrscheinlich auch für Hamburg.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 58 f – Georg Iggers