Juni 1989

Im Juni 1989 waren Wilma und ich noch einmal in die DDR gefahren. Wolfgang Küttler und ein Kollege holten uns vom Bahnhof Friedrichstraße ab. Einige Tage zuvor war die chinesische Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing blutig niedergeschlagen worden, eine brutale Aktion, mit der sich die DDR offiziell solidarisierte. Das DDR-Fernsehen brachte wiederholt Bilder aus Beijing, die den Eindruck erweckten, dass man der Bevölkerung der DDR drohend vorführen wollte, wie man gegebenenfalls gegen Proteste und Demonstrationen vorgehen würde. Die Stimmung in Ostberlin war gedrückt. Küttler und sein Kollege entschuldigten sich für die Haltung der DDR. Auf der Fahrt zur Akademie an der Prenzlauer Promenade fuhren wir an einer Kirche vorbei, ich vermute es war die Gethsemanekirche, vor der für alle sichtbar eine große Tafel mit der Aufschrift stand: »Klagegottesdienst für die ermordeten chinesischen Studenten.« Immer wieder hörten wir, auch von Jürgen Kuczynski, dass es so nicht weitergehen könne, aber wohl doch so weitergehen würde. In Leipzig war die Stimmung ähnlich bedrückend und angespannt. Wir fuhren anschließend zu Wilmas Freunden in den Böhmerwald, wo wir ähnliches zu hören bekamen. Ich kehrte Anfang Juli noch einmal in die DDR zurück, um Hartmut Zwahr zu treffen, der im Juni verreist gewesen war. Wilma war inzwischen nach Prag gefahren. Zwahr traf mich am Bahnhof in Leipzig. Ich hatte ihn noch nie so erregt gesehen. Er sagte, die Bundesrepublik habe sich mit der braunen Vergangenheit viel ehrlicher auseinander gesetzt als die DDR. Diese werde zwar noch von Leuten geführt, die wie Honecker während der NS-Zeit im Gefängnis gesessen oder in Spanien gekämpft hätten. Sie würden aber bald biologisch abgelöst und durch eine neue Generation ersetzt, die 1945 von der HJ in die FDJ gewechselt sei und »uns die nächsten zwanzig Jahre regieren« werde. Von Leipzig aus fuhr ich zu Gutsches nach Erfurt und mit ihm noch einmal nach Buchenwald, wo sich in der Ausstellung seit 1985 nichts Wesentliches geändert hatte, dann mit der Bahn über Bebra zurück nach Göttingen. Zwischen Erfurt und Eisenach saß ich mit fünf jungen Burschen zusammen im Abteil, als ein Polizist herein kam und nach Ausweisen fragte. Mein Ausweis interessierte ihn nicht; aber die jungen Leute fragte er aus, als ob sie Staatsfeinde wären. Der Zug hielt eine dreiviertel Stunde an der Grenzstation vor Bebra, während Beamte mit Hunden jeden Winkel des Zugs kontrollierten. Ich verspürte ein riesiges Gefühl der Erleichterung, als ich schließlich in Bebra in der Bundesrepublik ankam. Ein Jahr später, noch kurz vor der Wiedervereinigung, fuhr ich dieselbe Strecke wieder. Diesmal gab es keine Kontrolle. Stattdessen kam über Lautsprecher die freundliche Ansage: »Das Team der Reichsbahn verabschiedet sich jetzt und wünscht Ihnen eine angenehme Weiterreise.«

Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 224 f – Georg Iggers

Katalog-Nr.: T0051