Am 30. Januar zog die ganze Familie nach Richmond (Virginia). In Richmond hörten wir im Radio die Hitlerrede, in der er zum ersten Mal damit drohte, im Kriegsfall das europäische Judentum physisch zu vernichten.
Am Tag vor unserer Abreise von New York besuchte uns Harry Mela mit seiner Frau, um sich zu verabschieden. Er klärte mich auch über die Rassenlage in Virginia auf. Nach dem Demokratie-Unterricht, den ich in Lakewood genossen hatte, war dies für mich ein Schock. Was ich dann in Richmond vorfand, bestätigte seinen Bericht. Ich traf dort auf Apartheidspraktiken, die mich an Nazideutschland erinnerten. Ich hatte Deutschland noch kurz vor dem Novemberpogrom verlassen können, zu einem Zeitpunkt also, als die alltägliche Diskriminierung von so genannten Nichtariern bis hin zum Verbot der Nutzung öffentlicher Einrichtungen (Parks, Kinos, Schwimmbäder, Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken, Gaststätten usw.) in vollem Gange war.
Ich identifizierte mich also ganz und gar mit der schwarzen Bevölkerung. Ihre anhaltende Demütigung bedrückte mich. Sie wurden nie mit Mr. oder Mrs. angesprochen, nur mit dem Vornamen, erwachsene schwarze Männer wurden »boys« genannt. In der Zeitung stand hinter ihren Namen »negro« oder »colored«, ähnlich dem Ausdruck »Volljude« im nationalsozialistischen Deutschland. Es gab getrennte Toiletten für »white gentlemen« und »colored men«, »white ladies« und »colored women«. Mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel Lehrern, Anwälten und Geistlichen, die ausschließlich in der schwarzen Gemeinschaft selbst tätig waren, waren Schwarze auf niedrige Dienstleistungen festgelegt.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 67 f – Georg Iggers