Viele meiner Klassenkameraden gehörten der Jugendgruppe des religiösen zionistischen Verbandes »Misrachi« an. Die nichtjüdischen Jugendverbände waren nach 1933 größtenteils aufgelöst und teilweise in die Hitlerjugend integriert worden, die jüdischen Bünde bestanden jedoch bis zum Novemberpogrom 1938 fort. Es gab verschiedene Richtungen, zionistische und nicht zionistische, religiöse und weltliche, bürgerliche und sozialistische. Was sie untereinander und auch mit der nichtjüdischen Jugendbewegung verband, waren die Ideale des Wandervogels, ihre bündische Struktur, die Verherrlichung des Naturerlebens, das Wandern, die Lagerfeuer, das Singen, die Kameradschaft und die Abneigung gegen die »muffige« bürgerliche Gesellschaft. Mein Ideal war der Kibbuz. Fünf Hefte, die ich »Palästina« betitelte und in die ich zwischen 1937 und 1938 Artikel und Fotografien aus jüdischen Zeitungen und Kalendern einklebte und die ich immer noch besitze, belegen, wie ich den Zionismus damals auffasste. Eine der Fotografien zeigte besonders klar das ideale Menschenbild der zionistischen Pioniergeneration: den neuen Menschen, der die Büros und Universitätsbänke der großstädtischen Diaspora verlassen hatte und jetzt auf der Scholle seiner jüdischen Heimat mit den eigenen Händen arbeitete. Das war die nationale jüdische Agrarromantik, die so oder ähnlich auch in der nichtjüdischen Jugendbewegung und schließlich in pervertierter Form auch in der HJ vorzufinden war. Wir wandten uns nachdrücklich gegen die bürgerliche Welt unserer Eltern. Gegen den ausdrücklichen elterlichen Wunsch schloss ich mich insgeheim der Misrachi-Gruppe für Zehn- und Elfjährige an, die von einem siebzehnjährigen Jungen betreut wurde. Wir diskutierten, lernten, beteten miteinander, hörten uns Rabbiner Joachim Prinz’ Ausführungen über die Zukunft Palästinas an und trafen uns mit dem Hamburger Oberrabbiner Josef Carlebach.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 61 f – Georg Iggers