Ich sehe meine Mutter als aufrechte, intelligente Frau, für ihre Generation überdurchschnittlich gebildet. Sie hatte am Pilsener deutschen Lyzeum maturiert und dann die Prager deutsche Handelsakademie absolviert. Ihre Lektüre suchte sie sich aus dem Angebot der Büchergilde Gutenberg aus. Sie war sehr an der Bildung von uns Kindern interessiert. Sie war sprachbegabt, ihr Tschechisch war sehr gut, obwohl sie in Bayern geboren und aufgewachsen war, und wenn wir Kinder sie nicht verstehen sollten, unterhielt sie sich mit Tante Martha auf Französisch. Auf dem Flügel, dem Hochzeitsgeschenk von Großvater Abeles, spielte sie nicht oft - »Wenn die Leute vorbeigehen, werden sie sagen, dass die Jüdin am helllichten Tag nichts Besseres zu tun hat, als Klavier zu spielen«, pflegte sie zu sagen. Sie konnte Menschen- und Tierstimmen treffend nachmachen und unterhielt ganze Gesellschaften mit Fritz Löhnerschen Gedichten über Juden, die sich nicht anmerken lassen wollen, dass sie Juden sind.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 21 - Wilma Iggers