1927 kam ich in die deutsche Mädchenvolksschule. Am Tag davor saß ich im Garten auf der Schaukel und bemitleidete mich, weil das der letzte Tag meiner Freiheit war. Meine Lehrerin war in den ersten drei Schuljahren das etwas altjüngferliche Fräulein Quitterer. Sie musste drei Jahrgänge gleichzeitig unterrichten. Während sie sich mit einem beschäftigte, las ein anderer, und ein Dritter rechnete. Mit jedem Tag war ich den anderen im Lesebuch weiter voraus und passte nicht auf, was besprochen wurde. Fräulein Quitterer löste mein - und ihr - Problem, indem sie mich aus einem Buch, das sonst niemand in der Klasse hatte, vorlesen oder auf die Tafel abschreiben ließ. So las ich über die Geschichte von Teinitz seit dem Mittelalter und Legenden über Kaiser Joseph II.
Meine Freundinnen waren alle christlich, denn es gab fast keine jüdischen Familien im Alter meiner Eltern. Ihre jüdischen Altersgenossen waren meist unverheiratet, kinderlos oder weggezogen. Ich hatte also nie jüdische Mitschülerinnen, nur im Gymnasium für eine kurze Zeit einen jüdischen Mitschüler. Donnerstags hatten wir keine Schule, aber dafür, solange ich in der Volksschule war, Religionsunterricht. Der wurde von Herrn Zwetschkenbaum für alle jüdischen Kinder aus Teinitz und Umgebung gemeinsam abgehalten, so dass wir uns jedes Jahr dasselbe anhören mussten. Herr Zwetschkenbaum war als 14-jähriger Flüchtling 1914 aus Galizien gekommen und blieb als einziger in Teinitz, als die anderen galizischen Juden in ihre Heimat zurückgingen. Er beeindruckte jeden, der ihn kennen lernte, als gescheiter, charaktervoller Mensch. Vom Gehalt der jüdischen Gemeinde konnte er nicht leben, und so handelte er nebenbei mit Bettfedern und Häuten, die dann zu Leder verarbeitet wurden. Herr Zwetschkenbaum war, abgesehen von meiner Tante Sophie Popper, der einzige orthodoxe Mensch, den wir kannten.
Quelle: Iggers, Zwei Seiten der Geschichte, S. 18 – Wilma Iggers