Als weitere Gutachter für meine Dissertation wurden zwei neue Professoren benannt, Mr. Liepe und Mr. Schulz, die ich nicht kannte, und Miss Gamer gehörte ex officio dazu.
Da ich mit dem Department seit längerem kaum Kontakt gehabt hatte und es sich um zwei neue Leute handelte, war ich eigentlich recht optimistisch, doch es kam anders. Bergstraessers Einstellung mir gegenüber glich sich plötzlich denjenigen seiner anderen Kollegen vollkommen an, und die beiden Neuen trotteten brav hinter den anderen einher. Einmal sprach ich mit Bergstraesser in Gegenwart von Frau Schmitt, der Sekretärin des Departments. Ich beantwortete gerade seine Frage nach Kraus’ Einstellung zu Rosa Luxemburg. Plötzlich, ich kann mir bis heute nicht erklären, warum, wurde er wütend - ich hatte den sonst so kultiviert erscheinenden Mann noch nie so gesehen - und warf mir vor, durch und durch rot zu sein, und wollte mir seine Aktentasche an den Kopf werfen, traf aber das Fenster. Am nächsten Tag entschuldigte er sich bei Frau Schmitt und erklärte ihr, dass eine Kriegsverwundung solche Anfälle bei ihm provoziere. Dies erfuhr ich von ihr allerdings erst fünfzehn Jahre später.
Bergstraesser war von da an nur noch selten für mich zu sprechen, und besonders nachdem ich im Jänner 1949 nach Akron, wo Georg an der Universität unterrichtete, gezogen war - wir hatten im Dezember 1948 geheiratet -, war es schwer für mich, ihn brieflich oder telefonisch zu erreichen. Einmal versprach er, mir einige meiner Kapitel sofort zurückzuschicken, und als ich ihn nach mehr als einer Woche wieder anrief, meldete sich sein Untermieter und sagte, dass Familie Bergstraesser für einige Monate nach Deutschland geflogen sei. Bald nach seiner Rückkehr betrachtete ich meine Dissertation als beendet. Miss Gamer entschied, dass jeder der vier Professoren Änderungsvorschläge zu machen und dann die Arbeit an den jeweils nächsten weiterzuleiten habe. Das brauchte sehr viel Zeit, da keiner von ihnen in Eile war. Ich ging auch auf die unsinnigsten Vorschläge ein, die die Arbeit schließlich weder besser noch schlechter machten. Als sie endlich angenommen wurde, riet mir Georg, von allen Anmerkungen Ablichtungen zu machen, weil die Professoren sicher später behaupten würden, dass sie die Arbeit weder gesehen noch Änderungen verlangt hätten. Ich dachte zuerst nicht, dass sie so weit gehen würden, machte aber dann doch Kopien. Genau das, was Georg erwartet hatte, geschah, und von der Zeit an hob ich alle Unterlagen auf. Als ich die getippte Arbeit - an die 500 Seiten - Bergstraesser brachte, sah er sich sie gar nicht an und sagte nur: »Um ein Drittel kürzen.« Als ich damit fertig war, wohnten wir längst in Little Rock. 1951 erwarteten wir unser erstes Kind.
Das Rigorosum war für den Nachmittag des vierten Oktober 1951 angesetzt, und ich fuhr am ersten nach Chicago. Frühmorgens am vierten musste ich aber in das Chicago-Lying-In-Krankenhaus, die Prüfung wurde abgesagt, und unser Sohn Jeremy kam kurz nach sechs Uhr abends zur Welt. Vom Krankenhaus aus sagte ich Miss Gamer, dass der Chef der Klinik damit einverstanden sei, dass ich gleich nach den zehn Tagen, die man mit Neugeborenen im Krankenhaus verbringen musste, die Prüfung ablegen könnte. Sie bestimmte aber, dass die Prüfung erst in einem halben Jahr stattfinden könnte, da es sich in meinem Fall nicht um eine herkömmliche Verteidigung einer Doktorarbeit handele, sondern um eine gründliche Prüfung über die Literaturgeschichte, Kultur und Politik in Deutschland und Österreich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.
Daraufhin schrieb ich einen langen Brief an den Dekan Wick von der »graduate school« und legte der ganzen Dokumentation die Kopien der vielen Seiten mit Einwänden, Fragen und Vorschlägen, die angeblich ja nicht existierten, bei. Der Dekan versprach, nicht nur wie üblich jemanden aus einem anderen Fachbereich zur Prüfung als Beobachter abzustellen, sondern auch selbst dabei zu sein. Die Prüfung verlief, abgesehen von den eisigen Blicken meiner Professoren, problemlos. Als alle anderen schon den Raum verlassen hatten, sagte Miss Gamer, statt mir zu gratulieren, nur: »You know that you passed by the skin of your teeth.« Und dann: »Now you have a child, why do you want a PhD?«
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 48 ff – Wilma Iggers