Bevor wir nach Göttingen gekommen waren, hatte mich oft die Frage bewegt: Wie kann ich wissen, wer von den Leuten, die ich treffe, ein Mörder ist? Dies schien mir nun immer weniger relevant. So waren z. B. die Studenten, die in unserem Studentenheim wohnten, »damals« alle noch Kinder gewesen. Wir freundeten uns mit Uli Justus an, dessen Vater kurz nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft an den Folgen von Hunger und Kälte gestorben war, und mit Irene Hoerner, seiner damals 18jährigen Freundin und späteren Frau, deren Vater in Stalingrad gefallen war; mussten die den Krieg nicht wenigstens so hassen wie wir und ebenso auch die Nazis?
Wen kannten wir noch? In Jeremys Klasse war der Sohn des Direktors der evangelischen Bibliothekarsschule, der als Offizier an der Ostfront einen Befehl verweigert hatte und nur knapp mit dem Leben davon gekommen war. Daniel befreundete sich mit dem einzigen Jungen in seiner Klasse, mit dem er sich auf Französisch verständigen konnte. Sie sind noch immer enge Freunde. Dessen Vater, Karl-Heinz Tolle, ein Orgelbauer, hatte seine französische Frau Marcelle in Frankreich kennen gelernt, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Viele Jahre später zeigte er mir sein Tagebuch aus dem Krieg, das seine kritische Haltung zum Krieg und zum NS-Regime auswies. In Göttingen lernten wir Leute aller gesellschaftlicher Schichten kennen, darunter auch Frau Rehbein, die Putzfrau im Haus, die auf die sozialdemokratische Tradition ihrer Familie stolz war und insgeheim noch bei einer jüdischen Kleiderfirma Änderungsarbeiten ausgeführt hatte, als das schon längst verboten war. Wir verkehren noch heute mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 155 – Georg Iggers