Waldmünchen

Wir fuhren oft zu meinen Großeltern nach Waldmünchen. Sie hatten früher ein größeres Gemischtwarengeschäft gehabt, aber nachdem sie durch Kriegsanleihe und Inflation viel von ihrem Vermögen verloren hatten, waren sie umgezogen und hatten jetzt ein kleineres Geschäft gegenüber einer Kirche. Sie wohnten im Oberstock. Wenn Marianne und ich mit unserer Mutter für eine Woche oder länger kamen, gingen wir in die Klosterschule, die auch meine Mutter besucht hatte, und wurden zum Teil noch von denselben Schwestern unterrichtet. Wir freuten uns über die »Fleißbildln«, die wir in der Schule bekamen, bunt bemalte Heiligenbilder aus Zellophan. Großmutter schickte den Schulschwestern Leckerbissen »zum Probieren«, und die revanchierten sich auf ähnliche Art. Schwester Jakobea bekam von ihr noch nach dem Krieg von Kanada aus Pakete.

Anfangs hatten es meine Großeltern in Waldmünchen nicht leicht. War es, weil sie »Zug’reiste« waren, oder vielleicht doch, weil sie Juden waren, die einzigen weit und breit? Vor allem Herr Fuß, der einen ähnlichen Laden hatte, sah in meinem Großvater den Konkurrenten. Einmal ging dieser Mann auf der anderen Straßenseite; Großvater überquerte die Straße, bot ihm die Hand und sagte: »Herr Fuß, ich glaube, dass da Platz für uns beide ist, wir können einander doch helfen.« Von da an kamen sie gut miteinander aus. Großvater ging auch ab und zu ins Wirtshaus, der guten Nachbarschaft zuliebe. Da er nicht gerne Bier trank, begoss er damit immer wieder insgeheim die Blumentöpfe. Großmutter war die eigentlich Gesellige in der Familie und verkehrte mit den Beamtenfrauen, der Frau des Apothekers und mit Frau Silberhorn, die ein Schnittwarengeschäft hatte.

Zu den hohen jüdischen Feiertagen fuhren meine Großeltern nach Cham in die Synagoge. Dort besuchten ihre Töchter - »meine Mädeln«, pflegte Großmutter zu sagen - den jüdischen Religionsunterricht, denselben wie Karl Stern, der später in Kanada ein bekannter katholischer Konvertit wurde.

Waldmünchen war nur eine Autostunde von Teinitz entfernt und gleich groß, aber, wie meine Mutter häufig bemerkte: »Die Atmosphäre war ganz anders.« Die katholische Kirche spielte dort eine viel größere Rolle, und Waldmünchen mutete überhaupt altmodischer an. Dass meine Mutter über den lokalen Tratsch, zum Beispiel über »Gschpusis«, in Teinitz entsetzt war und es mit dem viel ehrbareren Waldmünchen verglich, lag wohl nicht nur daran, dass ein junges Mädchen von solchen Sachen weniger erfuhr als eine junge Frau.

Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 28 f – Wilma Iggers

Katalog-Nr.: T0083