Im Winter 1941/42 fing ich an, mich um Stipendien für mein Aufbaustudium zu bewerben. Von den zwei, die mir angeboten wurden, entschied ich mich für die Universität Chicago. Nicht nur hatte mein Lieblingsprofessor Haden dort promoviert - Chicago interessierte mich auch als Stadt mit dem größten tschechischen Bevölkerungsanteil, und da die Universität als baptistische gegründet worden war, waren die Leute an der Mc-Master University überzeugt, dass ich dort gut aufgehoben sein würde.
Ich war es nicht. Chicago war von Anfang bis zum Ende, von 1943 bis 1952, ein Albtraum. Aber zuvor ging ich im Mai 1942, gleich nach dem BA, nach Ottawa und arbeitete dort bei der Zensur. Ich las die Briefe von deutschen Kriegsgefangenen und deren Verwandten und Bekannten. Dreierlei mussten wir berichten: über Kritik am Lager in Kanada, über Informationen, die für die Kriegführung von Interesse waren, und über die Moral der deutschen Bevölkerung. Meine Mitarbeiter waren frisch gebackene BAs, Deutschkanadier, Exilpolen und Engländerinnen, die schon länger Erfahrung mit dieser Art Tätigkeit hatten. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, fallen mir hauptsächlich komische Passagen aus den Briefen ein. Die Arbeit machte mir Spaß, und ich kam mir mit 114 Dollar monatlich reich vor. In den sieben Monaten in Ottawa sparte ich so viel, dass ich nachher neun Monate in Chicago davon leben konnte.
Im Unterschied zu Kanadiern musste ich lang warten, bevor mir das Montrealer amerikanische Konsulat ein Studentenvisum erteilte. Anfang Jänner 1943 fuhr ich dann nach Chicago. Zur Anmeldung an der Universität gehörte eine ärztliche Untersuchung, bei der man an meinem Gaumen einen Tumor entdeckte, dem ich bis dahin keine Bedeutung beigemessen hatte. Es wurde gleich operiert, und nach der Operation, während die Lokalanästhesie noch wirkte, schrieb ich davon meinen Eltern, die deswegen ganz aus dem Häusl waren. Erst in meinem Zimmer bekam ich dann wahnsinnige Schmerzen, die wenigstens eine Woche anhielten. Trotzdem ging ich mit verbundenem Kopf und fast unfähig zu sprechen zu den Veranstaltungen an der Universität. Niemand interessierte sich für meinen Zustand, auch nicht die Kommilitonin, die mit mir im selben Haus wohnte. Im Department waren wegen des Krieges nur wenige Studenten, die zudem auch schon alle zum Herbst-Quarter eingetroffen waren und einander daher gut kannten. (Die Universität hatte keine Semester, sondern vier »Quarters« im Jahr von je drei Monaten.)
Von der McMaster University hatte ich die Überzeugung mitgebracht, dass man unter allen Umständen stets gleichbleibend freundlich sein sollte, kam aber damit schlecht an. Eine der ersten Veranstaltungen, die ich belegte, war Mittelhochdeutsch, und ich fand es zum Beispiel sehr interessant, dass es im Egerländer Dialekt, der in und um Teinitz gesprochen wurde, noch viele Überbleibsel aus dem Mittelhochdeutschen gab, die im Hochdeutschen dann verschwunden waren. Also verkündete ich im Aufenthaltsraum der »graduate students«, dass ich den anderen gern bei Mittelhochdeutsch helfen würde. Wie ich später erfuhr, wurde mir das als Überheblichkeit schwer verübelt.
Miss Gamer, die Leiterin des Fachbereichs für germanische Sprachen und Literaturen, war von Anfang an mir gegenüber feindselig eingestellt. Mr. Jolles, der über die deutsche Klassik und die Geschichte der deutschen Literaturkritik vortrug, war nicht viel besser. In all seinen Veranstaltungen malte er ein Schema an die Tafel, in dem er die Geschichte der Literatur, Philosophie und der Kunst im Allgemeinen auf einen Nenner brachte und mit Goethes Begriffen »Systole« und »Diastole« verband. Wahrscheinlich war ich davon nicht genug beeindruckt; er war beleidigt und der Auffassung, dass ich zuallererst Tschechin und Jüdin sei und vermutlich erst dann, wenn überhaupt, ein Mensch. Mr. von Gronicka, bei dem ich Keller, Storm und Meyer studierte, lobte meine Arbeiten sehr und sagte später, dass ihm seine Seminare keinen Spaß mehr machten, seit ich nicht mehr dabei sei. Als ich ihn bald danach um ein Empfehlungsschreiben für meine Akte beim Dekan bat, sagte er, dass er sich nicht gut genug an mich erinnern könne, um auch nur ein Formular über mich auszufüllen. Allerdings war inzwischen Folgendes vorgefallen: Ich war einige Male bei ihm zu Hause als Babysitterin gewesen. Nach einem solchen Abend fragte er mich, ob ich wüsste, wohin das silberne Zigarettenetui seiner Mutter gekommen sei; komisch, es sei doch sonst niemand in der Wohnung gewesen…
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 43 ff – Wilma Iggers