In der Schule fühlte ich mich zunächst recht wohl, auch weil der Druck viel geringer war. Trotz strenger Disziplin in der deutschen Talmud-Tora-Schule, wo die Kinder den Lehrern allerdings häufig Streiche spielten, verhielten sich die Klassen in Richmond sehr viel ordentlicher. Ich empfand den Unterricht zuerst als zu leicht und war überrascht, wie schlecht informiert viele der Lehrer und Lehrerinnen - es gab fast ausschließlich Lehrerinnen, im Gegensatz zu Deutschland, wo ich fast nur männliche Lehrer hatte - über die Welt außerhalb der Vereinigten Staaten waren und wie wenig gebildet sie mir insgesamt erschienen. In den traditionellen Fächern war ich auf Grund meiner deutschen Schulbildung meinen amerikanischen Altersgenossen weit überlegen und wurde innerhalb von wenigen Wochen ins achte Schuljahr versetzt. Das hatte seine Vor- und Nachteile.
Meine Anpassung an die amerikanische Welt war wahrscheinlich schwieriger als die vieler meiner emigrierten Altersgenossen. Die Jahre in Deutschland hatten mich doch sehr geprägt, nicht nur die jüdische, sondern auch die deutsche Umgebung. Ich kam in Richmond als orthodoxer Jude in ein betont protestantisches Umfeld. Die Volksschule Knauerstraße mit dem Lehrer Pohle, die Kontakte zu jüdischen Kindern im Turnverein Bar Kochba und in der zionistischen Jugendgruppe und das Kinderheim in Esslingen hatten alle dazu beigetragen, in mir ein Weltbild zu erzeugen, das nur schwer mit der Welt, die ich in Amerika vorfand, in Einklang zu bringen war. Amerika war 1939 nicht nur in politischer, sondern in fast jeglicher Hinsicht gänzlich verschieden von Deutschland, viel weiter entwickelt in dem von den Soziologen beschriebenen gesellschaftlichen Modernisierungsprozess. Obwohl sich Amerika im Gegensatz zu Deutschland, das militärisch aufrüstete, noch nicht von der Wirtschaftskrise erholt hatte, war das Lebensniveau hier bedeutend höher, selbst im amerikanischen Süden, der viel ärmer als der Norden war. Abgesehen von den schwarzen Vierteln sah man in Richmond im Gegensatz zu ländlichen Gegenden, wo es auch viel weiße Armut gab, kaum soziales Elend. Die Motorisierung, die in Deutschland erst nach 1960 so recht einsetzte, hatte sich in Amerika gleich nach dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt. 1939 war die Mehrheit der amerikanischen Familien schon motorisiert, in Deutschland gab es damals gemäß offizieller Statistiken einen Pkw auf 65 Personen. Die meisten der amerikanischen Haushalte besaßen elektrische Kühlschränke, Waschmaschinen, Telefon und Radio. Lebensmittel gab es im Überfluss. Man sparte nicht am Essen, besonders nicht an Fleisch. Amerika war auf dem Weg hin zur Konsumgesellschaft schon viel weiter als Deutschland. Mit dem Konsum hatte sich auch die Kommerzialisierung der Kultur weiter entwickelt.
Mein erster Eindruck, der sich später jedoch änderte, war, dass die Amerikaner viel oberflächlicher und materialistischer seien als die Deutschen - oder auch als die Zionisten. Luxus war für mich ein Frevel. Man hatte bescheiden zu leben. Mich störte in Amerika die enorme materielle Verschwendung. Ich wurzelte, ganz ohne es zu wissen, in der deutschen Romantik, die in gewisser Hinsicht auch die Romantik der zionistischen Jugendbewegung gewesen war.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 69 ff – Georg Iggers