Georg Iggers: Emigration? - Überlegungen und Aktivitäten der Eltern ab 1936

“Wie war es mit der Emigration? Also meine Eltern dachten am Anfang nicht daran, Deutschland zu verlassen. In Deutschland war ja ihre Heimat. (Sie waren) in Deutschland aufgewachsen. Ihre Sprache war deutsch. Und sie dachten immer noch, dass das vorübergehend ist, dass das irgendwie nicht typisch ist für Deutschland. Und dann kam der März 1936. Im März 1936 rückten deutsche Truppen in das Rheinland. Das Rheinland sollte nach den Versailler Bestimmungen entmilitarisiert sein. Und die Franzosen sahen sich das an und unternahmen nichts. Also anscheinend war die Generalität gegen den Einmarsch in das Rheinland, weil sie befürchteten, dass die Franzosen einschreiten würden, und dass die Deutschen unterlegen wären, aber Hitler hat das doch (gemacht). Und Hitler war erfolgreich. Die Welt hat zugesehen, wie der Versailler Vertrag gebrochen wurde. Da haben meine Eltern erkannt, dass die Nazis keine Übergangsregierung, sondern dass sie an der Macht bleiben würden. Und (sie) haben dann versucht zu emigrieren. Und das ging nicht. Also kein Land wollte Flüchtlinge aus Deutschland aufnehmen und man konnte nirgends hin. Und es war ein großes Wunder, dass wir 1938 ein Visum für Amerika bekamen. Das war eigentlich ein Zufall, also ganz verzweifelt ist mein Vater im März 1938 für zwei Wochen nach Amerika gefahren. Er kannte niemanden in Amerika, und hat dann im New Yorker Telefonbuch, im Telefonbuch von Manhattan, alle Leute angerufen, die unseren Familiennamen hatten, und hat dann jemand entdeckt, der ganz weitläufig verwandt war, also ein sehr wohlhabender Anwalt an der Wall Street, und der hat meinen Vater zu sich geladen, und hat uns sehr großzügig Bürgschaften, sogenannte “affidavits” angeboten. Mein Vater ist zurück nach Deutschland, und ein halbes Jahr später, am 5. Oktober 1938 haben wir das Visum bekommen,und sind gleich am 7. Oktober von Deutschland weg. Es hat noch einige Schikane gegeben, an der Grenze, aber wir sind über Holland nach England gefahren. In Bentheim sind wir aus dem Zug genommen worden und verhört worden und schikaniert worden, also meine achtjährige Schwester hatte eine Puppe, und die haben der Puppe den Kopf abgerissen, um zu sehen, ob darin Geld versteckt war, und das war unsere letzte Erinnerung an Deutschland. Aber wir haben überlebt, wir waren in keiner Lebensgefahr, und wir waren dann natürlich vollkommen überrascht, als 5 Wochen später die sogenannte “Kristallnacht” war. Zwischen dem 9. und 10. November wurden die jüdischen Synagogen zerstört, jüdische Geschäfte geplündert und fast alle Männer im Alter von 16 bis 60 in Konzentrationslager geschickt. Dann fing der Holocaust an…”
Katalog-Nr.: V0049