Abgesehen von der bestehenden Rassentrennung gefiel es mir in Richmond. Die Stadt mit ihren vielen Einfamilienhäusern, die alle von Gärten umgeben waren, mit ihren Alleen und Parks war schön. Wie schon in Hamburg ging ich auch hier leidenschaftlich gern stundenlang spazieren. Angenehm war mir dabei, dass Richmond so viel ruhiger war als das bevölkerungsreichere Hamburg. Bei warmem Wetter saßen die Menschen auf der Veranda und unterhielten sich mit den Vorübergehenden. Heute findet man so etwas fast nicht mehr. Die Menschen in Richmond schienen mir auch viel freundlicher zu sein als die in Deutschland. In der Schule fühlte ich mich zunächst recht wohl, auch weil der Druck viel geringer war. Trotz strenger Disziplin in der deutschen Talmud-Tora-Schule, wo die Kinder den Lehrern allerdings häufig Streiche spielten, verhielten sich die Klassen in Richmond sehr viel ordentlicher. Ich empfand den Unterricht zuerst als zu leicht und war überrascht, wie schlecht informiert viele der Lehrer und Lehrerinnen - es gab fast ausschließlich Lehrerinnen, im Gegensatz zu Deutschland, wo ich fast nur männliche Lehrer hatte - über die Welt außerhalb der Vereinigten Staaten waren und wie wenig gebildet sie mir insgesamt erschienen. In den traditionellen Fächern war ich auf Grund meiner deutschen Schulbildung meinen amerikanischen Altersgenossen weit überlegen und wurde innerhalb von wenigen Wochen ins achte Schuljahr versetzt. Das hatte seine Vor- und Nachteile.
(Zwei Seiten der Geschichte, S. 69 f - Georg Iggers)