In den ersten Jahren ihrer Ehe führten meine Eltern einen koscheren Haushalt. Ich kann mich noch an die beiden Küchentische erinnern, einen für Fleisch und einen für milchige Speisen. Nachdem mit der NS-Machtergreifung das koscher Schlachten verboten worden war, begannen meine Eltern, neukoscher zu essen; man kaufte das Fleisch im Schlachterladen, mied aber Schweinefleisch und andere vom jüdischen Gesetz verbotene Fleischsorten. Im Hause meiner Tante Martha und meines Onkels Siegfried, wo wir regelmäßig am Freitagabend und an Feiertagen eingeladen waren und das Passah-Abendmahl, den Seder, feierten, wurden die jüdischen Bräuche jedoch streng eingehalten. Mein Vater ging an hohen Feiertagen und an den Todestagen seiner Eltern in die orthodoxe Bornplatz-Synagoge, blieb aber nur während eines kleinen Teils des langen Gottesdienstes. Anstelle von Weihnachten feierten wir mit Leuchtern, dem Trendelspiel und Nüssen Chanukka und glaubten an den Chanukka-Mann. Sehr früh wurde uns Kindern so bewusst, dass wir Juden waren, und wir sprachen darüber ganz unbefangen mit unseren christlichen Spielgefährten.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 56 – Georg Iggers