Jürgen Kuczynski

Von Amsterdam aus fuhren wir in einem Leihwagen, einem uralten Opel, der immer wieder stehen blieb und am Schluss, als wir die DDR schon wieder verlassen hatten, den Geist vollkommen aufgab, nach Ostberlin. Dort wohnten wir im Christlichen Hospiz in der Nähe der Friedrichstraße, wo uns die zehn Transistorradios, die wir als Geschenke für Freunde mitgenommen hatten, aus dem Koffer gestohlen wurden. Während dieser Woche in Ostberlin traf ich alle die Historiker, die mich besonders interessierten: Jürgen Kuczynski, Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte, aus einer assimilierten großbürgerlichen jüdischen Familie stammend, seit 1930 Mitglied der KPD, Westemigrant, Welt- und Bildungsbürger, loyaler und dennoch kritischer Kommunist, dessen Institut und Zeitschrift, das »Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte«, trotz marxistischer Ausrichtung internationales Renommee erlangten; Karl Obermann, der die Nazijahre in Amerika verbracht hatte, Historiker der 1848er Revolution, der trotz aller Loyalität mehrmals Schwierigkeiten mit dem Regime hatte; Joachim Streisand, den Herausgeber der schon erwähnten zwei Bände über die deutsche Geschichtswissenschaft; Ernst Engelberg, Oncken-Schüler, der nach zwei Jahren Haft 1935 über die Schweiz ins türkische Exil gegangen war und zur Zeit meines Besuchs als Direktor des Zentralinstituts für Geschichte eine sehr einflussreiche Rolle in der Geschichtswissenschaft der DDR spielte; und Fritz Klein, der zusammen mit Willibald Gutsche und Joachim Petzold die dreibändige Geschichte Deutschlands im Ersten Weltkrieg herausgab, die, nachdem sie 1968 erschienen war, trotz ihrer marxistischen Fragestellungen und teilweise auch gerade ihretwegen im Westen positiv rezipiert wurde. Fritz Fischer hatte mir geraten, Klein und Gutsche unbedingt aufzusuchen.

Ich muss betonen, dass ich die Geschichtswissenschaft der DDR insgesamt sehr wohl ernst nahm. Besonders in der Zeitgeschichte war allerdings vieles mehr Propaganda als Wissenschaft. Die schematische Geschichtsauffassung und das marxistische Vokabular verhinderten oft eine ehrliche Auseinandersetzung mit der objektiven Wirklichkeit. Andererseits bewiesen etwa die Arbeiten von Fritz Klein, dass marxistische Fragestellungen durchaus auch fruchtbar sein können.

Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 198 – Georg Iggers

Jürgen Kuczynski war ein deutscher Historiker und Wirtschaftswissenschaftler. (https://de.wikipedia.org/wiki/Jürgen_Kuczynski)

Katalog-Nr.: T0044