Ich hatte in dieser Zeit Kontakt mit der jüdischen Jugendbewegung, und die Erfahrungen dort überschnitten sich in mancherlei Hinsicht mit den Erlebnissen in meiner Volksschulklasse. Da ich an dem allgemeinen protestantischen Religionsunterricht nicht teilnahm, erhielt ich Privatstunden von Kantor Lieber, dem späteren Rabbiner der Emigrantengemeinde Habonim in New York. Der Unterricht, der Hebräisch, biblische Geschichte und jüdische Bräuche und Gebete einschloss, fesselte mich. Die Sommerferien 1934,1935 und 1936 verbrachte ich tagsüber in einem orthodox ausgerichteten jüdischen Sommerlager, in dem ich zum ersten Mal auch Kinder aus armen jüdischen Familien kennen lernte. Einen großen Teil meiner sonstigen Freizeit verbrachte ich in dem zionistischen Turnverein Bar Kochba und lebte also sowohl in einer christlichen als auch in einer jüdischen Umwelt. Judentum bedeutete damals für mich Orthodoxie und Zionismus, zwei Richtungen also, die ich unter meinen Jugendkameraden zwar jeweils vorfand, die jedoch nicht unbedingt zusammengehören. Hinzu kam eine bestimmte antibürgerliche Einstellung, die sowohl unter meinen christlichen Mitschülern als auch unter meinen jüdischen Altersgenossen vorherrschte.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 60 f – Georg Iggers