Meine Eltern dachten zum ersten Mal im Frühjahr 1936 an die Emigration. Bis dahin hatten sie angenommen, dass sich das NS-Regime nicht lange würde halten können. Als aber Frankreich und Großbritannien nicht auf die deutsche Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 reagierten, wussten sie, dass es Zeit war, Deutschland zu verlassen; aber die Frage blieb, wohin. Es bestand kaum Aussicht auf den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis. Palästina kam für sie nicht ernsthaft in Betracht, nicht nur wäre der Anfang sehr schwer geworden, es war auch ungewiss, ob überhaupt ein so genanntes Zertifikat für die Einreise ausgestellt worden wäre. Ich wollte damals unbedingt nach Palästina, meinen Eltern jedoch wäre der Lebensstil in dem damaligen Pionierland fremd geblieben.
Im März 1938 nahm mein Vater, ziemlich verzweifelt gestimmt, an einer vom Israelitischen Familienblatt veranstalteten Informationsreise in die USA teil. Während sie unterwegs waren, ereignete sich der deutsche Einmarsch in Österreich. Mein Vater entdeckte während seines zweiwöchigen Aufenthaltes in den USA einen sehr weitläufigen Verwandten, Harry Mela, dessen Namen er im Manhattaner Telefonbuch gefunden hatte. Melas Großvater, ein Bruder des Großvaters meines Vaters, war 1852 in die USA emigriert. Harry Mela, ein erfolgreicher Anwalt in der Wall Street, gehörte der New Yorker Elite deutsch-jüdischen Ursprungs an, deren Vorfahren um oder kurz nach 1848 nach Amerika gekommen waren. Die Melas waren assimilierte Juden, die dem vornehmen Reform Temple Emmanuel angehörten. Mela war bereit, uns ein Affidavit, die zur Einwanderung nötige Bürgschaft, auszustellen. Mein Vater fuhr zurück nach Deutschland und stellte den Antrag auf ein amerikanisches Visum. Am 5. Oktober, Jom Kippur, erhielten wir das Visum, und am 7. Oktober fuhren wir mit der Bahn nach Holland.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 65 – Georg Iggers