Im Sommer 1966 waren wir mit den Kindern in Göttingen und wollten von dort mit dem Auto, einem Mercedes 200, den wir sehr günstig gekauft hatten - der US-Dollar stand bei vier DM -, zu Wilmas Freunden und Verwandten nach Böhmen fahren. Wir dachten, dass wir selbstverständlich über Bayern fahren müssten und nicht den direkten Weg durch die DDR nehmen konnten. Wir beantragten dennoch ein Transitvisum durch die DDR, das wir zu unserer Überraschung erhielten, mit einer Übernachtung in Halle. Wir hatten damals keine persönlichen oder wissenschaftlichen Kontakte in die DDR, aber ich hatte sorgfältig die Arbeiten von DDR-Historikern verfolgt, die für mein Buch über den deutschen Historismus relevant waren, in erster Linie die von Joachim Streisand herausgegebenen zwei Bände über die Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung, Hans Schleiers Monographie über Sybel und Treitschke und Werner Bertholds Schrift »Großhungern und Gehorchen« über Gerhard Ritter. Obwohl ich manche dieser Arbeiten ideologisch einseitig und schematisch fand - mich störte besonders die einem dogmatischen Marxismus-Leninismus verhaftete Sprache, die einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ihrer Untersuchungen Grenzen setzte -, erschien mir vieles an ihrer Kritik der deutsch-preußischen Historikerzunft als berechtigt.
In Halle war mir nur der Name Leo Stern bekannt. Stern, Wiener jüdischer Herkunft, hatte im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und die Kriegsjahre in der Sowjetunion verbracht, bevor er 1950 aus Wien nach Ostdeutschland gekommen war. Er war einer der maßgebenden Historiker der DDR. Ich schrieb ihm, dass ich nach Halle kommen und ihn und seine Kollegen gerne kennen lernen würde. Einige Tage später erhielt ich ein Telegramm von ihm: »Wegen Urlaub persönliche Begegnung leider unmöglich. Fachkollegen Prorektor Tillmann und Dr. Hübner zu ihrer Verfügung = Prof. Stern.«
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 193 – Georg Iggers