Wilma bekam vom International Research und Exchange Council (IREC), einer von der amerikanischen Regierung finanzierten Stiftung, die Austausche zwischen den USA und den so genannten sozialistischen Ländern unterstützte, ein Stipendium, um im Herbst 1985 für drei Monate ihren Forschungen über Grete Meisel-Hess nachgehen zu können. Da ich ein Sabbatjahr hatte, konnte ich sie begleiten. Wir wurden bei einer Arztwitwe in Taucha, einem kleinen Ort am Ende der Straßenbahnlinie 13 am nordöstlichen Rand von Leipzig, untergebracht. Wir wohnten in einem Schlafzimmer ohne Arbeitstisch und ausreichende Beleuchtung, das gerade zum Schlafen genügte. Unsere Wirtin war freundlich und empfing uns immer schon an der Tür, wenn sie nicht, wie viele DDR-Bürger, gerade leidenschaftlich gern »Dallas« sah. Für sie und auch für ihren Sohn, der mit seiner brasilianischen Freundin, Tochter wohlhabender brasilianischer Kommunisten, ebenfalls im Haus lebte, fing das Leben erst im Westen an. Der Sohn, der Romanistik studierte und die DDR hasste, war der SED in der Hoffnung beigetreten, irgendwann die Möglichkeit zu bekommen, an einer Tagung im Westen teilzunehmen, um dann wegzubleiben. Dieser Zwiespalt zwischen dem, was man in der Öffentlichkeit sagte, und dem, was man privat meinte, wurde im Laufe der achtziger Jahre immer größer, selbst bei Leuten wie Berthold, die der SED auch innerlich nahe standen und jetzt offener und kritischer wurden…
So lernten wir in der DDR zweierlei Arten von Menschen kennen: zum einen Wissenschaftler, die als Angehörige der Akademie der Wissenschaften oder der Universitäten öffentlich ganz linientreu auftraten, obwohl einige, wie Fritz Klein, schon sehr früh, andere, wie Berthold, sich erst im Laufe der achtziger Jahre im persönlichen Gespräch offen und kritisch äußerten; zum anderen die große Mehrheit der Bevölkerung, mit der man im Zug, in Gaststätten, auf der Straße oder im Taxi zusammentraf, die dem DDR-Regime insgesamt eher ablehnend gegenüberstand. Es wird in diesem Zusammenhang jetzt oft von den zwei deutschen Diktaturen gesprochen, ein Vergleich, der mir schon bei meinem ersten Aufenthalt in der DDR aufgegangen war. Aber trotz äußerlicher Ähnlichkeiten, z. B. im Hinblick auf die Rolle der Staatspartei, der Jugendorganisationen, der Rituale der öffentlichen Kundgebungen usw., gab es doch erhebliche Unterschiede. Ich kann mich noch gut an die Atmosphäre der dreißiger Jahre erinnern, wo man sich nicht traute, irgendwelche kritischen Bemerkungen zu machen, geschweige denn einen politischen Witz zu erzählen. Das war in der DDR ganz anders. Allerdings kannte ich nicht die DDR der stalinistischen Periode in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, obwohl es auch schon damals an der Karl-Marx-Universität mit dem Philosophen Ernst Bloch, dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer und dem Historiker Walter Markov lebhafte Diskussionen gegeben hatte. Bloch, der 1957 zwangsemeritiert wurde, und Mayer emigrierten schließlich in den frühen sechziger Jahren in die Bundesrepublik.
Das Deutschland der Nazis war offen terroristisch gewesen, die poststalinistische DDR dagegen war ein schwerfälliges, repressives, aber viel weniger totalitäres Regime, auch wenn Dissidenten, die öffentlich Kritik übten, sehr wohl Gefahr liefen, in Bautzen zu landen; teils auch mit der zynischen Absicht der DDR, dass sie gegen Lösegeld aus der Bundesrepublik harte Währung einbringen konnten. Das Naziregime hatte, indem es auf nationale Traditionen zurückgreifen konnte und angeblich auch solch nationale Interessen verfolgte, in den Augen der Mehrheit der Deutschen eine Legitimität besessen, die dem DDR-Regime von Anfang an mangelte, das für die meisten seiner Untertanen bloß ein Vasall der Sowjetunion war. Eben weil sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich wussten, konnten es DDR-Bürger wagen, privat viel kritischer zu sein, als sie in der Öffentlichkeit auftraten.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 209 ff – Georg Iggers