Abgesehen von wichtigen Ausnahmen erschien mir die Geschichtswissenschaft in der DDR als sehr provinziell. Obwohl es mit Kossok wichtige Ansätze zu einer theoretisch fundierten vergleichenden Untersuchung von sozialen und politischen Prozessen gab, war ein Großteil der Geschichtsschreibung in der DDR entweder propagandistisch oder positivistisch, oder beides zusammen. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo immerhin viele junge Historiker und Historikerinnen einige Zeit im Ausland verbracht hatten und die ausländische oder wenigstens die englischsprachige Literatur kannten, war die Historikerschaft in der DDR vom Ausland und der ausländischen Wissenschaft, selbst der der Ostblockländer, abgeschnitten. Viel Energie wurde der politischen und historiographischen Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik geopfert, und trotz des Bekenntnisses zum Marxismus-Leninismus hatte man sich viel weniger von den Traditionen der so genannten »bürgerlichen« Geschichtswissenschaft befreit, als vielen bewusst war. So war das zwölfbändige »Lehrbuch der Deutschen Geschichte« rein auf die politische Geschichte zugeschnitten, in der jetzt lediglich die Arbeiterbewegung eine eigenständige Rolle spielte. Die von der Partei unterstützte Beschäftigung mit »Erbe« und »Tradition« einer sozialistischen DDR führte seit Beginn der achtziger Jahre zu einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber den Entwicklungslinien der deutschen und besonders der preußischen Geschichte. Anders als bei der kritischen Sozialgeschichte in der Bundesrepublik leitete dies allerdings keineswegs hin zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den autoritären Traditionen deutscher Geschichte, sondern eher zu einer Annäherung an die neokonservative Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik.
Mit der neuen »Erbe-und-Tradition«-Ausrichtung fanden Aspekte der deutschen und der preußischen Geschichte Anerkennung, die zuvor als reaktionär gegolten hatten. So wurde Luther zu einem fortschrittlichen Denker stilisiert, ohne dass man den vormodernen Zügen seines Denkens - und auch seinem vehementen Hass gegen die Juden - genügend Rechnung getragen hätte. Die Feiern zum 500. Geburtstag Luthers 1983 übertrafen noch die zum 100. Todestag von Karl Marx. Als symbolisches Zeichen eines Einvernehmens mit der nationalen »Tradition« konnte die Statue Friedrich »des Großen« an ihrem früheren Standort Unter den Linden wieder aufgestellt werden. Die schrillen chauvinistischen und rassistischen Töne sowie die Deutschtümelei von Jahn, Arndt und Fichte und den Burschenschaften wurden als Randerscheinungen einer im Grunde progressiven Bewegung betrachtet. Bismarcks Lösung der deutschen Frage wurde von Ernst Engelberg als »Sieg des geschichtlichen Fortschrittes« gewertet. Seine Bismarck-Biographie wurde gleichzeitig im Akademie-Verlag in Ostberlin und im konservativen Siedler-Verlag in West-Berlin veröffentlicht.
Es gab daneben aber eine zweite wichtige Entwicklungslinie in der Geschichtswissenschaft der DDR, die Entstehung einer Sozialgeschichtsforschung, die zwar von marxistischen Fragestellungen ausging, aber relativ frei von dogmatischen und schematischen Vorgaben war. Der Begriff Sozialgeschichte wurde in der DDR lange als »bürgerlich« abgelehnt. Der Historische Materialismus als allgemeine Gesellschaftstheorie der historischen Entwicklung machte, das war der Anspruch, die Soziologie - und damit auch die Sozialgeschichte - als besondere Wissenschaft oder Disziplin überflüssig.
1980 war der erste Band von Jürgen Kuczynskis »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« erschienen. Wie viele Arbeiten von Kuczynski, z. B. die 38-bändige »Geschichte der Arbeiterklasse im Kapitalismus« (1960-1972), lieferte sie in vielerlei Hinsicht eine Collage von Zitaten und kein in sich geschlossenes Werk. Dennoch enthält der Band Anregungen zu einer neuen marxistischen Geschichtsschreibung, indem er über die Darstellung der »großen Klassenkämpfe« hinausgeht und den Alltag des arbeitenden Volkes mit berücksichtigte. Ein Beispiel dafür, wie diese Geschichte zu schreiben sei, glaubte Kuczynski in den Arbeiten der französischen »Annales«-Schule, etwa bei Fernand Braudel, zu finden, bei Historikern, denen es »wirklich um das Alltagsleben der Menschen« geht. »Einige Zusammenhänge«, schrieb Kuczynski, »werden wir als Marxisten anders sehen, aber nicht viele.« Es müsse ein Ziel der Alltagsgeschichte, auch einer marxistischen Alltagsgeschichte, sein »zu erfassen: Was die Menschen gegessen haben, wie sie sich gekleidet haben, wie sie gewohnt haben, wann sie geruht und geschlafen haben, wie es war, wenn sie krank wurden, in welche Kreise sie heirateten, ob sie von Ort zu Ort wanderten oder permanent ansässig blieben, wie das Verhältnis der Kinder zu den Eltern war, was mit den alten Menschen geschah«.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 213 ff – Georg Iggers