Die Freitagabend-Aufenthalte in der Familie meines Onkels Siegfried und meiner Tante Martha hinterließen bei mir einen tiefen Eindruck. Bald begleitete ich meinen Onkel regelmäßig am Samstagmorgen zur Bornplatz-Synagoge. Er war auch der einzige Verwandte, mit dem ich über die Probleme mit meinen Eltern sprechen konnte. Sein älterer Sohn Ernst war 1933 kurz nach seinem Abitur von den Nazis wegen Zugehörigkeit zu einer linken Gruppierung verhaftet worden und dann gleich nach seiner Freilassung nach Holland emigriert. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Nazis trat er später dem niederländischen Widerstand bei, wurde gefasst und in Auschwitz zu Tode gebracht. Die beiden jüngeren Kinder waren überzeugte Zionisten. Herbert, später Gerschon, ging 1935 als Siebzehnjähriger in ein Kibbuz in Palästina. Die engste Verbindung hatten meine Schwester und ich aber mit seiner Schwester Ruth, von uns Maus genannt, 1920 geboren, die sehr viel Zeit mit uns verbrachte, uns dabei auf die jüdischen Feiertage vorbereitete und uns auch die ethischen Grundsätze des Zionismus vermittelte. Ich sah mich mehr und mehr als Jude denn als Deutscher.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 61 – Georg Iggers