Ein weiterer Grund für Unstimmigkeiten zwischen meinen Eltern war ich. Meiner Mutter waren gute Manieren, anständige Kleidung, zum Beispiel das Tragen von Büstenhaltern, und Frisuren sehr wichtig; mein Vater hielt das alles für Oberflächlichkeiten. Dass ich in sieben Jahren Klavierstunden so gut wie nichts gelernt habe, hat nicht nur damit zu tun, dass Herr Schlesinger pädagogisch völlig unbegabt war, sondern auch damit, dass Klavierspielen zu den Dingen zählte, von denen meine Mutter meinte, dass »es sich gehört«.
Von früher Kindheit an hatte ich bestimmte Einstellungen, die ich von meinem Vater ohne jedes Nachdenken übernommen hatte, vor allem: Land ist positiv, Stadt negativ. Dialekt ist besser als Hochdeutsch, ungezwungen besser als formell und Freundschaften mit Leuten unterhalb des gehobenen Bürgertums sind besser als »standesgemäße«. Anders meine Mutter; sie erlaubte zum Beispiel nicht, dass meine Schwester mit einem Mädchen verkehrte, weil es unehelich und die Enkelin des Totengräbers war…
Wie kann ich meinen Vater schildern, ohne den Eindruck zu erwecken, dass hier eine alte Frau auf eine Art von ihrem Vater schwärmt, die auch bei einem Backfisch peinlich wäre? Wer ihn kannte, könnte mir helfen, plausibel zu machen, warum er so vielen Leuten so viel bedeutete. Es wäre unfair, andere Menschen mit ihm zu vergleichen - weil sie alle dabei schlecht wegkämen. Inzwischen sehe ich auch seine Fehler, auch dass seinetwegen mein Leben nicht leicht war. Aber er war von herausragender Intelligenz, er konnte sich in die Probleme anderer vertiefen wie kein anderer und tat es auch, und man fühlte sich bei ihm geborgen. Er hat vielen Menschen die Emigration ermöglicht und ihnen dadurch das Leben gerettet.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 21 ff - Wilma Iggers