Als ich im Herbst 1946 nach Chicago zurückkehrte, bahnte sich ein engeres Verhältnis zwischen Wilma Abeles und mir an. Ich hatte sie im Sommer 1944 im Seminar von Helena Gamer kennen gelernt, wo sie mit ihren engagierten Diskussionsbeiträgen einen großen Eindruck auf mich gemacht hatte. Wir trafen uns nun fast jede Woche einmal, um spazieren zu gehen oder zusammen zu essen. Unser Verhältnis blieb aber, wenigstens an der Oberfläche, vollkommen platonisch. Selbst nachdem mir klar geworden war, dass ich mich in sie verliebt hatte, hatte ich zunächst nicht den Mut, es ihr zu gestehen. Für mich war sie eine Respektsperson. Sie war älter als ich, war mit ihrem Studium weiter und hatte - was auf mich einen großen Eindruck machte - schon an einer Universität, der University of New Brunswick in Kanada, gelehrt. Ich hatte Angst, sie würde mich zurückweisen, wenn ich ihr meine Gefühle offenbarte, und dass dann auch unsere Freundschaft ein Ende haben würde. Zudem wusste ich, dass sie auch mit anderen Männern befreundet war, von denen sie mir erzählt hatte.
Als sich im Sommer ihre Klausuren näherten - die »comprehensive examinations«, die Voraussetzung für die Zulassung zur Doktorarbeit -, sagte sie mir, dass sie nun weniger Zeit für mich haben würde. Und einige Zeit lang sahen wir uns dann auch weniger. Das änderte sich aber sehr plötzlich Anfang Juli, nur wenige Wochen vor der Prüfung. Ich bot ihr an, bei den Vorbereitungen behilflich zu sein, indem ich für sie Informationen in der Bibliothek nachschlug. Sie nahm mein Angebot an, und wir trafen uns dann jeden Abend. Wir saßen bis spät im großen Wohnzimmer des von Frank Lloyd Wright entworfenen Robie-Hauses und büffelten für unsere Examina - ich bereitete mich schon auf meine Prüfungen im kommenden Frühjahr vor. Dann und wann unterbrachen wir die Arbeit, um uns über Gott und die Welt zu unterhalten, ohne je auch nur einen Kuss auszutauschen. Ich machte mir große Sorgen um Wilmas Prüfungen, da ich wusste, dass das Department ihr nicht wohl gesonnen war. Sie bestand jedoch alle Prüfungen. Gleich danach, Ende August 1947, fuhr sie zu ihren Eltern nach Kanada, und ich fuhr zu meinen nach Richmond. In Richmond begann ich, mir aus einem Lehrbuch Tschechisch beizubringen, um sie zu beeindrucken, ohne damit je große Fortschritte zu erzielen. Ende September kam ich nach Chicago zurück. In Kanada vermutete man, dass es zwischen mir und Wilma ernst sei. Einige Tage später kam Wilmas Vater nach Chicago. Wir waren einander sympathisch, aber ich wusste nicht, dass er gekommen war, um mich kennen zu lernen. Wilma hatte ihm vorher gesagt, sie wolle ihm den Mann vorstellen, den sie heiraten werde, aber dieser wisse noch nichts davon.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 93 f – Georg Iggers