Auf dem Rückweg nach Amerika hielten wir uns dann eine Woche in Japan auf, wohin mich Akira Hayashima eingeladen hatte, den ich 1971 bei einem Vortrag im Seminar von Theodor Schieder in Köln kennen gelernt hatte. In Kioto sprach ich im Goethe-Institut vor dem japanischen Arbeitskreis für zeitgenössische deutsche Geschichte, in Tokio vor dem Arbeitskreis für französische Sozialgeschichte, zu dem mich Professor Hiroyuki Ninomiya, der Hauptvertreter der Annales-Orientierung in Japan, eingeladen hatte.1985 flogen wir noch einmal nach Ostasien, diesmal nach Südkorea, wo die koreanische Übersetzung meiner »New Directions« soeben erschienen war. Ich hielt ähnliche Vorträge wie in China in Seoul und Taegu. Im Gegensatz zu Beijing wurde es in der Diskussion offensichtlich, dass viele der Studenten Marxisten waren. Von Seoul aus flogen wie dann für drei Tage nach Taiwan, um meinen Doktoranden Chou Liang-kai und seine Frau Chang Shih-deh, die auch in Buffalo promoviert hatte, zu besuchen und auch Vorträge zu halten. Wir kamen am 10. Todestag von Tschiang Kai-schek in Taipeh an. Überall hingen rote Transparente, die mehr an Ostberlin als an Beijing erinnerten.
In den achtziger Jahren kam eine Anzahl asiatischer Studenten zu mir nach Buffalo. Der erste war der eben erwähnte Chou Liangkai, der 1980 eintraf und eine Dissertation über die Historiographie der englischen Arbeiterbewegung vorbereitete. Im Zusammenhang damit führte er auch ausführliche Interviews mit Eric Hobsbawm, E. P. Thompson und Thompsons Frau, Dorothy Thompson, ebenfalls eine bedeutende Sozialhistorikerin. Er und seine Frau sind heute Professoren in Taiwan.
Kurz danach kam Song-woo Lim aus Korea. Er war Ende der siebziger Jahre bei einer Demonstration in Seoul verhaftet, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und nach einem Jahr auf Intervention von U.S.-Präsident Jimmy Carter entlassen worden. Aber er durfte in Korea nicht weiter studieren. Seine Deutschkenntnisse waren gut und wurden noch dadurch verbessert, dass er mit unserer Unterstützung mehrere Monate am Goethe-Institut in Göttingen und ein Semester in Darmstadt zubringen konnte. Er promovierte mit einer Arbeit über den Max-Weber-Schüler Albert Salomon, der in der Weimarer Republik Mitherausgeber der SPD-Zeitschrift »Die Gesellschaft« und Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik gewesen war. Nach seiner Emigration wurde er Professor für Soziologie an der New School for Social Research in New York, wo er auch mein Lehrer gewesen war. Lim ist jetzt Professor an der jesuitischen Sogang-Universität in Seoul.
1984 kam Supriya Mukherjee aus Kalkutta und Neu Delhi zu uns. Sie begleitete ihren Mann, der ein Promotionsstipendium bei den Volkswirtschaftlern hatte. Der Direktor unseres Graduate-Programms, der deutlich gegen ausländische Studenten voreingenommen war, hatte sie und auch Shih-deh Chang, die Frau von Chou Liang-kai, abgelehnt, aber ich konnte es als Department Chair durchsetzen, dass beide auf Grund ihrer bisherigen Leistungen aufgenommen wurden. Frau Mukherjee interessierte sich besonders für zwei Themen: die jüdischen Intellektuellen im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik und die Reformpädagogik dieser Zeit. Ihre Deutschkenntnisse waren sehr gut. Nachdem ich ihr von meinen Jugenderlebnissen in Esslingen erzählt hatte, fuhr sie vor Ort, um mehr über das israelitische Waisenhaus zu erfahren und es möglicherweise zum Thema ihrer Dissertation zu machen. Letzteres erwies sich nach einem Gespräch im Stadtarchiv auf Grund fehlenden Quellenmaterials als unrealistisch. Sie kam aber mit interessanten Materialien zurück, die meine Vermutung bestätigten, dass die Schule seinerzeit bewusst reformpädagogische Ziele verfolgt hatte. Darunter waren auch Berichte über wöchentlich stattgefunden habende Treffen der Lehrer, bei denen die wichtigste psychologische und erzieherische Literatur besprochen worden war. Frau Mukherjee promovierte dann mit einer sehr guten Arbeit über den deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendpsychologen William Stern, der bis zu seiner Entlassung 1933 Professor an der Universität Hamburg und enger Mitarbeiter von Ernst Cassirer gewesen war.
Wie schon erwähnt, kam Shao Lixin, unser erster Doktorand aus Rotchina, 1986 aus Beijing. Shao, der in seiner Jugend begeisterter Maoist gewesen war, hatte durch die Kulturrevolution sein Studium für fast zehn Jahre unterbrechen müssen und stand mit der Zeit den Verhältnissen in China zunehmend kritisch gegenüber. Er hatte mehrere Jahre an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften über chinesisch-japanische Beziehungen im 20. Jahrhundert gearbeitet und beabsichtigte, nach seiner Promotion nach China zurückzukehren, um dort europäische Geschichte zu lehren. Im Herbst 1988 flog aber die Dissidentengruppe, der er in Beijing angehört hatte, auf, und er sah sich gezwungen, Asyl in Amerika zu beantragen, das er mühelos und noch vor dem Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens erhielt. Er promovierte mit einer interessanten, inzwischen veröffentlichten Arbeit über die Rezeption Nietzsches in China von der Jahrhundertwende und der Studentenbewegung vom Mai 1919 bis zur Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989. Inzwischen hat er wieder Verbindungen zu seinem Heimatland und war 1998 bis 1999 Gastwissenschaftler an der Volksuniversität in Beijing.
(Iggers, Zwei Seiten der Geschichte, S. 242ff)