Die ersten Jahre nach 1966 fuhr ich fast jedes Jahr mit Georg und den Kindern zu meinen Freundinnen nach Westböhmen und nach Prag. Ich weiß nicht, warum wir gerade in dem aufregenden Jahr 1968 nicht dort waren. In diesem Jahr schrieben mir viele Leute ganz euphorisch und luden mich ein, ihre neue Demokratie mitzuerleben. Den Kontakt zu meinen Freunden aus dem Gymnasium habe ich nie abreißen lassen.
Ich habe soeben Kunderas Roman »Die Unwissenheit« gelesen. Er handelt von 1968er-Emigranten, die nach Böhmen zurückkehren - nicht gern, sondern weil man es von ihnen erwartet. Die tschechischen Freunde von einst werden zur Enttäuschung. Wahrscheinlich schildert Kundera hier eigene Erfahrungen: Die alten Freunde und Verwandten sind provinziell, kleinlich, roh, und bisweilen klingt sogar deren Sprache in seinen Ohren unfein.
Kunderas Eindrücke sind meinen nur selten ähnlich. Franta, der einzige männliche Mitschüler, mit dem ich weiterhin korrespondierte, stellte viele Fragen zu unserem Leben und zur Politik. Franta stammte aus besseren Kreisen, sah gut aus, war ein guter Schüler und schrieb Gedichte. Mir hatte imponiert, dass er Rüza, die aus ärmlichen Verhältnissen kam und gar nicht hübsch, aber äußerst gutmütig war, geheiratet hatte.
Er war dann Zwangsarbeiter in Deutschland, schlug sich nach dem Krieg unter anderem als Grenzpolizist durch und studierte nebenbei Jura. Die ganzen Jahre hindurch schrieb er mir Briefe, die linientreuer waren als unbedingt notwendig. Erst als Georg ihn 1964 besuchte, erfuhren wir, dass er das Regime so hasste wie fast alle meine Bekannten. Irgendwann in den siebziger Jahren verließ er Rüza und die Kinder, lebte dann mit einer slowakischen Kommunistin zusammen, vor der er bald Angst bekam, weil er glaubte, dass sie ihn bespitzelte. Er wurde immer deprimierter und unförmiger. Nach seiner Pensionierung trank er Unmengen an Bier. Als ich ihm vorwarf, dass er seine Gesundheit ruinierte, antwortete er, dass er sich auf diese Weise umbringen wollte, und genau so kam es….
Ähnlichen Kontakt hatte ich auch zu Anita. Sie hatte die Lehrerbildungsanstalt absolviert, viele Jahre unterrichtet und einen Lehrer geheiratet. Auch sie habe ich seit 1966 fast jedes Jahr besucht - meistens im Dorf Temešné pod Primdou, wo sie die wärmere Hälfte des Jahres verbringen, oder auch im nahe gelegenen Bor (Haid), in der besser beheizbaren Wohnung im Plattenbau. Irgendwann in den siebziger Jahren beschlossen Anita und ihr Mann, der schon längere Zeit die Oberaufsicht über eine staatliche Imkerei hatte, den Bestand ihrer eigenen Bienenstöcke entscheidend zu vergrößern. Sie kamen so zu einem der wenigen großen Privatbetriebe in ihrem kommunistischen Land. Anita hängte die Schule jedoch nicht ganz an den Nagel. Als sie schließlich aus dem Schuldienst ausschied, kam die samtene Revolution und mit ihr verschiedene neue Aufgaben: Erwachsenen ihrer nahe der bayrischen Grenze gelegenen Gegend Deutsch beizubringen und Grenzgängern bei der Stellungssuche »drüben« zu helfen…
Anita ist ein abgeklärter, ich möchte fast sagen: weiser Mensch, die gute Seele ihres Dorfes. Durch sie habe ich einige interessante Leute aus ihrer Klasse kennen gelernt, z. B. Blacká und ihren Mann in Domaclice, beide bewusste Katholiken, die wegen ihrer Überzeugung während der kommunistischen Regierungszeit viele Jahre im Gefängnis gewesen waren. Oder Mania Riková, die resolute Frau des langjährigen Verwalters von Neuhof, das früher uns gehört hatte, und vieler anderer zum Kolchos gewandelten Landwirtschaften. Er war begeisterter Kommunist, sie nahm bezüglich ihrer Ablehnung des Regimes kein Blatt vor den Mund. Heute bin ich mit Mänas Tochter Jana Tomášková, die ihrer Mutter sehr ähnelt und jetzt Bürgermeisterin von Horšovský Týn (Bischofteinitz) ist, in Kontakt.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 293 f – Wilma Iggers