Aus heutiger Sicht ist es verwunderlich, wie wenig damals über die NS-Vergangenheit gesprochen wurde. Wir wussten etwas, wie im Fall von Reinhard Wittram, Heimpel und Schramm, aber wenig Genaues über die Rolle, die sie im Nationalsozialismus gespielt hatten. Erst durch die Öffnung der DDR-Archive in den neunziger Jahren bekam man einen genaueren Einblick. Es wurde auch wenig gefragt. Plötzlich waren alle Demokraten und verurteilten die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus. Gerhard Ritter und Hans Rothfels, die auch nach 1945 noch sehr deutschnational waren, hatten den deutschen Historikern bescheinigt, dass sie mit wenigen Ausnahmen ihrer Wissenschaft treu geblieben seien und die notwendige Distanz zum Nationalsozialismus bewahrt hätten, was in sehr vielen Fällen nicht der Wahrheit entsprach. Auch mir war damals nicht bewusst, wie groß die Gemeinsamkeiten zwischen der großen Mehrheit der Historiker und dem Nationalsozialismus gewesen waren.
Durch Reinhard Wittram lernten wir seinen Assistenten Rudolf von Thadden und dessen Frau Wiebke kennen, die heute noch zu unseren besten Freunden zählen. Thadden war damals noch keine dreißig. Er und seine Frau, wie auch Ernst Schulin, der eben in Göttingen promoviert hatte, zählten zu den wenigen Historikern, die wir damals kannten, die sich kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinander setzten. Thadden, der 1945 als Dreizehnjähriger das pommersche Gut seiner Eltern hatte verlassen müssen, kam aus einer Familie, die, obwohl oder weil sie konservativ, national und betont evangelisch gewesen war, unter den Nazis gelitten hatte. Der Vater, der sich in der Bekennenden Kirche engagiert hatte, war zeitweise inhaftiert gewesen. Die Schwester des Vaters wurde 1944 hingerichtet. Nach 1945 wurde der Vater zum ersten Präsidenten des Evangelischen Kirchentages Deutschlands gewählt. Der junge Rudolf kam in ein Lycée in Genf, wo er fließend Französisch lernte. Er bemüht sich sein ganzes Leben lang um die deutsch-französische Verständigung, was in Frankreich hoch anerkannt wird. Die Freundschaft zu Thadden und seiner Frau, die auch Historikerin ist, trug viel dazu bei, dass wir uns in Deutschland wohl fühlten.
Quelle: Iggers, Zwei Seiten der Geschichte, S. 148 f Georg Iggers
Siehe auch: von Thadden, Rudolf