Im Sommer 1945 machte ich meinen Magister-Abschluss. Gleich danach wurde ich gemustert. Wegen meiner Augen wurde ich als eingeschränkt tauglich zurückgestellt. Ich fuhr nach Richmond, um dort auf meine Einberufung zu warten. Der Krieg war dann vorüber, und ich bekam erst im Frühherbst 1945 den Befehl, mich zu melden, wurde dann aber wegen erhöhten Blutdrucks doch nicht eingezogen. So fand ich mich zu Beginn des Herbstvierteljahres ohne Mittel für die Fortsetzung meines Studiums in Chicago wieder, da ich fest mit meiner Einberufung gerechnet hatte. Ich beschloss, bei der Graduate Faculty for Political and Social Sciences in New York, der so genannten University in Exile an der New School for Social Research, mein Glück zu versuchen. Die New School war ein noch recht neues Experiment auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung. Sie war 1919 von drei hervorragenden, aber umstrittenen Intellektuellen gegründet worden, dem Historiker Charles Beard, dem Soziologen Thorstein Veblen und dem Sozialwissenschaftler Alvin Johnson, und berief Wissenschaftler, die bereits im Verlauf des Ersten Weltkriegs oder während des »Red Scares«, der Verfolgung angeblicher Kommunisten oder Linker nach dem Ersten Weltkrieg, von ihren Universitäten entlassen worden waren. Die an die New School angeschlossene Graduate Faculty of Social and Political Sciences, im Volksmund »University in Exile« genannt, war 1933 nach der NS-Machtergreifung gegründet worden, um es deutschen und italienischen Sozialwissenschaftlern zu ermöglichen, ihre akademische Karriere fortzusetzen. Nach dem militärischen Fall Frankreichs wurde auch eine École Libre des Hautes Études an die New School angeschlossen.
Ich fuhr also nach New York, wie immer per Anhalter, mit nicht mehr als zwanzig Dollar in der Tasche. Mein erster Weg führte mich zur Arbeitsvermittlung der Jewish Federation of Philanthropies, die mir eine befristete Stellung vermittelte. Mein Zimmer bei einer deutsch-jüdischen Emigrantenfamilie in Washington Heights kostete vier Dollar die Woche. Die Verkehrsmittel waren billig: fünf Cents für die U-Bahn und für die wunderbaren zweistöckigen Busse der 5th-Avenue-Linie, die oben offen waren.
Mein zweiter Weg ging zur New School, wo ich mit dem Dekan der Graduate Faculty, Professor Horace Kallen, sprach. Er hatte viel Verständnis für meine Lage und bot mir sogleich die Befreiung von den Studiengebühren an. Kallen war ein großartiger Mensch, der große alte Mann der New School, ein kämpferischer Intellektueller, der übrigens auch eng mit dem großen liberalen amerikanischen Philosophen John Dewey zusammenarbeitete. Seit den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte er versucht, ein ethisch orientiertes Judentum mit einem tiefen Glauben an ein sozial verantwortungsbewusstes Amerika in Übereinstimmung zu bringen. Er hatte sich dabei auch sehr für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Deutschland in die New School eingesetzt. Fast alle Veranstaltungen der New School fanden am Abend statt, was mir sehr entgegenkam, da ich während des Tages Geld verdienen musste.
Das Jahr in New York, während dessen ich nicht auf einen akademischen Abschluss zielte, war zweifellos das wertvollste meiner Studienzeit….
Aber das New Yorker Jahr hatte auch seine Schattenseiten. Nur hier hatte ich ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Mein Einkommen war zwar die Studentenzeit hindurch stets sehr bescheiden, aber in Chicago hatten regelmäßige kostenlose Mahlzeiten mein Auskommen erleichtert und ich besaß genug Geld, um meine Zimmermiete zu bezahlen. Darüber hinaus hatte ich ein Anrecht auf medizinische, wenn auch nicht auf zahnärztliche Betreuung, die ich wohl benötigt hätte, die mir aber unerschwinglich blieb. Ich kleidete mich mit ausrangierter Armeegarderobe, die mir ein Freund schenkte, oder mit sonstigen gebrauchten Sachen. In New York hingegen musste ich für Mahlzeiten und Kleidung zahlen.
Nach meiner Arbeit in der jüdischen Abteilung der New York Public Library vermittelte mir die Federation of Jewish Philanthropies eine Teilzeitstelle als Laufbursche bei der Jewish Agency for Palestine, der Organisation, die die Interessen der jüdischen Bevölkerung in Palästina vor der Gründung des Staates Israel vertrat. Damals war ich noch Zionist, und doch empfand ich meine Erlebnisse bei der Jewish Agency als ernüchternd. Ich war immer der Meinung gewesen, dass Juden und Araber in Palästina zusammenleben sollten, und war über die Vehemenz der Ablehnung schockiert, mit der Albert Einstein von den Mitarbeitern der Jewish Agency kritisiert worden war, als er öffentlich für eine binationale Lösung eintrat.
Danach arbeitete ich in dem berühmten Garment Center in Midtown Manhattan, wo Textilfabriken konzentriert waren, in denen damals nicht nur die Besitzer, sondern auch die Arbeiter überwiegend jüdischer Herkunft waren. Dort verpackte ich Kleider. Die Arbeit war zwar langweilig, jedoch recht gut bezahlt. Ich gewann hierbei Einblicke in die Lebensweise jüdischer Arbeiter. Als ich einmal vierzehn Tage krank war, hatte ich kein Geld für Lebensmittel und musste es mir von meinen Eltern borgen, was ich als sehr demütigend empfand.
Während dieses Jahres litt ich an einer schlimmen Depression, die bei Jugendlichen wohl recht häufig vorkommt, konnte mir aber nicht leisten, einen Therapeuten aufzusuchen. Der Anlass für den Ausbruch der Krise war das Ende meiner platonischen Freundschaft mit Nancy.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 84 ff – Georg Iggers