Das Göttinger Max-Planck-Institut gewann für mich zunehmend an Bedeutung. Obwohl ich keine offizielle Anbindung hatte, verbrachte ich dort sehr viel Zeit. Ich war als Gast stets willkommen, hatte einen Arbeitstisch und kompetente Gesprächspartner nicht nur unter den Mitarbeitern, sondern auch unter den vielen Gästen aus aller Welt. Sehr früh schon hatte das Institut begonnen, Wissenschaftler aus Osteuropa und bald auch aus der DDR und der Sowjetunion einzuladen. In den sechziger Jahren war das Hauptprojekt der Neuzeitabteilung des Instituts eine vergleichende internationale Studie ständischer Gesellschaften unter Leitung des Meinecke-Schülers und Emigranten Dietrich Gerhard, den ich schon aus Amerika kannte und mit dem ich mich gut verstand. 1971 kam Rudolf Vierhaus als Direktor der Neuzeit-Abteilung an das Institut. Vierhaus brachte eine Gruppe jüngerer Historiker an das Institut, die neue Richtungen einschlugen. Er gewährte diesen Forschern, die methodisch und politisch weiter links standen als er, freie Hand. Wilma und ich fanden in Vierhaus immer jemanden, mit dem wir sprechen konnten, der sich für unsere Arbeit interessierte und uns wichtige Anregungen gab. Das Hauptprojekt der Neuzeit-Historiker war jetzt die Protoindustrialisierung in Mitteleuropa, das heißt die Industrialisierung vor der Industrialisierung, vorwiegend, aber nicht ausschließlich auf dem Land. Einerseits handelte es sich bei dem Projekt um eine Wirtschaftsgeschichte, die einen Prozess des ökonomischen Wandels empirisch untersuchte; anderseits um die Wechselwirkung dieses Prozesses mit anderen sozialen und kulturellen Aspekten des Lebens und der Frage, wie die Betroffenen auf diese Prozesse reagierten und diese beeinflussten.
Quelle: Iggers, Zwei Seiten der Geschichte, S. 260 f
Siehe auch: Vierhaus, Rudolf