Aber auch Georgs Arbeiten sind aus meiner Sicht nicht einem sterilen Objektivitätsprinzip verpflichtet. Für ihn spielt die Frage nach Gerechtigkeit und nach den Werten, die für den Aufbau einer humanen Welt notwendig sind, eine große Rolle. Wie ich schon angedeutet habe, bin ich ziemlich sicher, dass es eine solche nie geben wird. Im Rückblick weiß ich, dass die Tschechoslowakei, in die ich hineingeboren wurde und für die ich in meiner Kindheit und Jugend begeistert eingetreten bin, nicht für alle ein Paradies war. Selbst ein Tomáš G. Masaryk konnte das mit all seinen exzellenten Qualitäten nicht schaffen, und die Ereignisse nach seinem Tod, dort und in der übrigen Welt, haben die Aussichten auf eine bessere Welt bestimmt nicht befördert.
Georg ist ein Pflichtmensch: Er arbeitet fast immer, ob an seinen wissenschaftlichen Schriften, an der Förderung seiner Doktoranden und anderer junger Historiker oder auf politisch-sozialem Gebiet. Er liest vor allem Zeitungen und Fachliteratur, um sich zu informieren, oder er schwimmt seiner Gesundheit zu Liebe. Aber zum reinen Vergnügen lesen, sich Filme oder Theaterstücke ansehen - das macht er im Unterschied zu mir fast nie. (Allerdings, um ehrlich zu sein, tue ich dies oft auch mit nicht ganz reinem Gewissen und fühle mich besser, wenn ich mir einreden kann, dass es einen nützlichen Zweck hat.)
Ich habe den Kopf voller »Moischelach«-Geschichten, die ich bei Rakous gelesen habe oder die mir Frau Wondrasch in Teinitz erzählt hat; Streiche meines Vaters aus seiner Jugend, die Fritz-Löhner-Parodien, die meine Mutter auswendig konnte, Geschichten, die in Teinitz über Leute, die ich kannte, erzählt wurden und von denen manche ein paar Generationen zurückreichen - sie alle tragen zu einem bunten Abbild des Lebens bei, das allerdings mehr lustige als traurige Seiten hat.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 308 f – Wilma Iggers