Andererseits hat der Fortschritt auch seine Schattenseiten. Durch den Prozess der Globalisierung sind die Länder der Welt zusammengerückt, gleichzeitig aber hat sich die Kluft zwischen Reich und Arm enorm vergrößert. Das Zeitalter der Kriege zwischen den Großmächten, die die Welt seit dem Beginn der Neuzeit geprägt haben, scheint vorüber zu sein. Beide Seiten vermieden während des Kalten Kriegs den direkten militärischen Zusammenstoß, der zur totalen nuklearen Zerstörung geführt hätte. Die Gewalt hat aber seit 1945 nicht nachgelassen. Statt der großen Kriege hat es viele kleinere gegeben, in denen ethnische und nationale Gegensätze erbarmungslos ausgetragen wurden, fast immer zwischen kleineren Volksgruppen, wie etwa auf dem Balkan, in Israel, in Zentralasien oder in Sri Lanka. In Mittel- und Teilen von Südamerika und Afrika gibt es seit Jahren blutige Bürgerkriege, die wirtschaftliche, aber oft auch ethnische Ursachen haben. Während des Kalten Krieges waren es oft Stellvertreterkriege, in die das westliche und das östliche Bündnis verwickelt waren. Die Welt sah tatenlos zu, als Menschen in Kambodscha und in Ruanda abgeschlachtet wurden. Das rasante Tempo der Modernisierung im Rahmen der technologischen Entwicklung und Globalisierung hat neue Spannungen gezeitigt. Armut und - noch gefährlicher - das kulturelle Unbehagen an der modernen Welt haben neue Formen von Fundamentalismen erzeugt, und das nicht nur in den muslimischen Ländern. Der alte Kolonialismus ist durch den globalen Kapitalismus ersetzt worden. Aber obwohl ökonomische Faktoren eine große Rolle spielen, lassen sich die internationalen und lokalen Konflikte nicht mit einfachen marxistischen Kategorien erklären. Kulturelle, ethnische und oft auch für politische Zwecke missbrauchte religiöse Motive machen eine vernünftige Lösung, ob in Kaschmir oder im Nahen Osten, auf lange Zeit unwahrscheinlich.
Der schreckliche Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 hat gezeigt, welche neuen destruktiven Formen die derzeitigen Konflikte angenommen haben. Der internationale Terrorismus muss bekämpft werden, aber die erschreckend unkritische Welle des Patriotismus in Amerika, die derzeit das Land überschwemmt, verhindert eher eine rationale Analyse der Ursachen des Terrorismus und der Politik, die zu seiner Entstehung beigetragen hat. Die Interventionen Frankreichs und der USA in Vietnam, Frankreichs in Algerien, Russlands in Tschetschenien und Israels im Libanon und bei beiden Intifadas beweisen, dass militärische Aktionen nicht geeignet sind, politische und ethnische Probleme zu lösen. Es schmerzt mich als Amerikaner, dass die USA seit 1945 unter dem ideologischen Mantel der Bewahrung der Menschenrechte eine imperialistische Realpolitik verfolgt haben, der gerade die Menschenrechte immer wieder zum Opfer fielen. Derselbe Vorwurf trifft auch auf die Weltpolitik der ehemaligen Sowjetunion zu.
Ich habe nie an einen zwangsläufigen Fortschritt geglaubt, aber ich war doch zuversichtlich, dass sich am Schluss die Vernunft durchsetzen würde, eine Vernunft, deren Kern die Würde und Selbstbestimmung der Menschen ist. Fast regelmäßig im Abstand von zehn Jahren habe ich mich in wissenschaftlichen Aufsätzen zu den Grenzen und Widersprüchen des Fortschritts geäußert und immer die Hoffnung aufrecht erhalten, dass nach den Worten der Propheten Jesaja und Micha die Zeit kommen würde, »wo kein Volk gegen das andere ein Schwert aufheben« und »ein jeglicher unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum ohne Furcht wohnen« wird. Vielleicht ist die menschliche Natur so beschaffen, dass dieses Ziel unerreichbar ist, und sicher machen die moderne Technologie und die fortschreitende Manipulierung der Massen die Rolle der Gewalt um so bedrohlicher. Das zwanzigste Jahrhundert, das mit so großen Hoffnungen begann, hat sich als das blutigste der Weltgeschichte erwiesen. Seit der jakobinischen Schreckensherrschaft in der Französischen Revolution haben wir immer wieder mit ansehen müssen, wie radikale Utopien, die die Menschen befreien wollten, wie etwa in der Sowjetunion unter Lenin und Stalin und in China unter Mao, in ihr Gegenteil umgeschlagen sind.
Ich bin also Wilmas Pessimismus mit der Zeit näher gekommen. Aber ich bin doch weiterhin davon überzeugt, dass wir uns für die Verbesserung der Lage der Menschen einsetzen sollen, dass es keinen Fortschritt als solchen geben kann, wohl aber Fortschritte.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 312 f – Georg Iggers