Es entstand jetzt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mit Wehler eine Geschichtsforschung, die sich nicht nur kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzte, sondern auch diese Kritik in eine sozialwissenschaftliche Analyse der deutschen Gesellschaft einbezog. Die primäre Frage für diese kritische Geschichtsschreibung war, warum und wie es in Deutschland zum Nationalsozialismus hatte kommen können. Dies bedeutete, dass es ihr stärker um eine problemorientierte Analyse wichtiger Prozesse und Strukturen ging, für die eine narrative Darstellung der Personen und Ereignisse, eine Ideen- oder Diplomatiegeschichte, die einen zentralen Platz in der idealistischen Historik des klassischen Historismus eingenommen hatten, nicht ausreichte.
Ich bemühte mich, Vertreter dieser neuen kritischen, sozialgeschichtlich orientierten Richtung kennen zu lernen, darunter besonders jüngere Historiker. Schon 1966 war ich Helmut Böhme, Fritz Fischers Assistenten, begegnet, der gerade sein Buch »Deutschlands Weg zur Großmacht« fertig gestellt hatte. Ebenfalls 1966 lernte ich Hans Mommsen und Dieter Groh, beide Assistenten bei Werner Conze in Heidelberg, kennen, die sozialgeschichtliche Ansätze mit einer kritischen Sicht der deutschen Geschichte zu verbinden suchten. 1969 hatte ich Hans-Ulrich Wehler, der bald der führende Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft wurde, in Köln, wo er Assistent bei Schieder war, besucht. Interessanterweise waren viele der jungen kritischen Historiker Schüler von Conze und Schieder, die sich im Dritten Reich historiographisch und politisch im Sinne des Nationalsozialismus engagiert hatten. Im Dritten Reich waren Conze und Schieder Mitbegründer der so genannten Volksgeschichte gewesen. Diese wollte im Gegensatz zu der herkömmlich auf den Staat orientierten borussischen Geschichtsschreibung die Grundlagen für eine Geschichte des »Volkes« vorbereiten. Diese Geschichte hatte einerseits moderne Aspekte, die sich mit den »Annales« vergleichen ließen. Sie beschäftigte sich mit dem Alltagsleben der breiten Schichten der Bevölkerung, mit Wohnung, Kleidung, Nahrung, Folklore, und interessierte sich für Umwelt und Landschaft. Ähnlich wie die »Annales« war sie auch bereit, quantitative Methoden anzuwenden. Andererseits beinhaltete diese Geschichtsauffassung, wie allgemein die nationalsozialistische Ideologie,die ihr als Grundlage diente, eine antimoderne Einstellung. Ihr Volksbegriff war völkisch im rassistischen Sinn: Das deutsche Volk stehe als eine Blutgemeinschaft im Kampf um Lebensraum mit anderen, niedriger stehenden Völkern, besonders im Osten Europas. Nach 1945 wurde diese Geschichtsauffassung entnazifiziert. Der Begriff »Volk« entfiel; der Blick war jetzt weg von der Agrargesellschaft auf die moderne Industriegesellschaft gerichtet. 1957 wurde von Werner Conze der Heidelberger Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte gegründet. Wichtige Vertreter einer modernen Sozialgeschichte, wie Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen, Hans Mommsen, Helmut Berding, Dieter Groh, waren Schüler von Conze und Schieder. Das hat Winfried Schulze in seiner Arbeit »Die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945« (1989) dazu geführt, die Ursprünge der kritischen Sozialgeschichte, wie sie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahren entstanden ist, in der Volksgeschichte der NS-Zeit aufzuspüren. Allerdings trifft das nur beschränkt zu. Mehrere der kritischen Sozialhistoriker, wie Gerhard A. Ritter, nicht mit Gerhard Ritter zu verwechseln, waren nicht Schüler von Conze und Schieder, und Jürgen Kocka, Jahrgang 1941, der eine sehr zentrale Rolle in der kritischen Sozialgeschichte spielte, Klaus Tenfelde und Hans Jürgen Puhle, waren wiederum Schüler von Gerhard A. Ritter. Was diese kritischen jungen Historiker auch von der »modernen Sozialgeschichte«, wie sie Schieder und besonders Conze nach 1945 vertraten, unterschied, war ihre kritische Gesamteinschätzung der deutschen Geschichte.
(Zwei Seiten der Geschichte, S. 258 f – Georg Iggers)
Siehe auch: Annales-Schule; Wehler, Hans-Ulrich; Kocka, Jürgen