Im Sommer 1991 bot ich als Gastwissenschaftler an der TH Darmstadt ein Seminar über neuere Tendenzen in der Geschichtswissenschaft an. Es war das erste Mal, dass ich deutsche Studenten unterrichtete. Vorher hatte ich häufig ähnliche Seminare in Buffalo abgehalten. Dort wurde jede Woche ein bestimmtes Thema mit dazugehöriger Lektüre besprochen. Ich konnte stets damit rechnen, dass die Studenten vorbereitet waren, aber in Darmstadt war das anders. Mehrere Studenten beschwerten sich, dass ich von ihnen zu viel erwarte - man hielt das, was wir in Buffalo machten, für zu »verschult«. Aber da waren auch einige, die sich aktiv an den Diskussionen beteiligten. Wir waren gern in Darmstadt, wo wir durch den Austausch mit Buffalo gute Freunde und Bekannte hatten. Wir wohnten im Gästehaus der TH zusammen mit etlichen Wissenschaftlern aus der Sowjetunion. An mehreren Freitagabenden gingen wir zum Gottesdienst in die Synagoge, die erst wenige Jahre zuvor eingeweiht worden war. Zu unserer Überraschung fanden wir auch einige unserer sowjetischen Nachbarn vor, von denen wir nicht geahnt hatten, dass sie jüdischer Herkunft waren. Die Gemeinde in Darmstadt machte einen viel normaleren Eindruck als die, die wir aus Bielefeld oder Leipzig kannten. Sie war größer und bestand nicht überwiegend aus alten Menschen. Die Sabbat-Gottesdienste wurden regelmäßig und mit guter Beteiligung abgehalten. Damals hatte die Gemeinde ungefähr 150 Mitglieder; heute mit der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion sollen es um die 500 sein, ähnlich wie jetzt in Leipzig.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 266 f – Georg Iggers