Im Laufe der achtziger Jahre bahnten sich neue Kontakte zu Ostasien an. 1982, als ich Chair des Departments war, hatten wir einen chinesischen Historiker aus Beijing, Professor Qi Shi-rong, für ein halbes Jahr als Gast in Buffalo. Einige Jahre zuvor hatte bereits ein Austausch mit Hochschulen im Raum Beijing, besonders dem Beijing Teachers College, begonnen. Im Mai 1984 flogen Wilma und ich dann im Rahmen des Austausches für sechseinhalb Wochen nach China. Wir beide hielten Vorträge am Beijing Teachers College (das jetzt Beijing Capital University heißt), ich in Zhang Zhilians historiographischer Veranstaltung an der Beijinger Universität und an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften und Wilma vor Studenten, eigentlich hauptsächlich Studentinnen, der Germanistik am Fremdsprachen-Institut. Wir wohnten im Friendship Hotel, das in den fünfziger Jahren den Chinesen von der Sowjetunion geschenkt worden war, wo ausländische Wissenschaftler untergebracht wurden. Durch Zhang Zhilian lernten wir seine Studenten und Kollegen kennen. Mein Buffaloer Kollege Roger Des Forges, Sinologe, und seine Frau Alison, die ein ganzes Jahr mit ihren beiden Kindern in Beijing verbrachten, trugen viel zur Bereicherung unseres Aufenthalts in China bei. Qi teilte uns einen seiner Doktoranden, Zhou Zhiwen, als Dolmetscher zu. Zhou hatte kurz vorher seinen Magister in amerikanischer Geschichte am Cortland State College im Bundesstaat New York abgeschlossen. Er verbrachte viel Zeit mit uns, informierte uns über die Verhältnisse in China, die er meist sehr kritisch sah. Er sprach auch niemals von der Vierer-, sondern immer von der Fünferbande, als deren fünftes Mitglied er Mao Zedong identifizierte. Wir hatten viel Kontakt zu Studenten. Im Vergleich zu Ostberlin und Leipzig fanden wir das politische Klima unter den Studenten überraschend offen. Nach jedem Vortrag gab es lebhafte Diskussionen. Das marxistische Vokabular, das in den Diskussionen unter den ostdeutschen Studenten unvermeidlich war, kam in den Fragen und Äußerungen der chinesischen Studenten nur selten vor.
Überraschend viele Studenten wollten mit uns auch außerhalb der Veranstaltungen sprechen. Obwohl sie sich am Eingang unseres Hotels ausweisen und eintragen mussten, kam eine Gruppe sogar mit einem Dolmetscher zu uns. Mehrere, die sich nicht ins Hotel trauten, baten uns, sie auf der Straße zu treffen. Eine Gruppe von ungefähr dreißig Studenten organisierte einen Diskussionsnachmittag in der Beijinger Universität. Sie wollten mit uns über die angloamerikanischen Sozialwissenschaften sprechen. Viele Namen waren ihnen bekannt, auch wenn ihre Texte ihnen nicht zugänglich waren. Allerdings war auch vieles ins Chinesische übersetzt worden, darunter zu meinem Erstaunen auch Karl Poppers »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«. Ein Autor, über den die Studenten mehr wissen wollten, war der neoliberale Ökonom Milton Friedman. In Ostberlin oder Leipzig wäre eine solche Diskussion undenkbar gewesen. Zu der Zeit wurden mein Buch »New Directions in European Historiography« und das von mir mit Harold Parker herausgegebene »International Handbook of Historical Sciences« gerade ins Chinesische übersetzt. Beide erschienen 1989, kurz vor dem Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Das »International Handbook« enthält ein teils kritisches Kapitel über die Geschichtsschreibung in der Volksrepublik China von Arif Dirlik und Lawrence Schneider, das unverändert veröffentlicht wurde. Ich weiß nicht, ob das nach dem blutigen Vorfall noch möglich gewesen wäre.
Die Stimmung unter den Studenten war optimistisch, was die politische Liberalisierung Chinas anbelangte. Es war die Zeit der Mauerzeitungen. Die demokratische Bewegung war in vollem Gang. Wir waren daher auch zuversichtlich, als sich 1989 eine Million Demonstranten auf den Beijinger Straßen versammelten. Mein Doktorand, Lixin Shao, der 1986 aus Beijing nach Buffalo kam und enge Verbindungen nach China hatte,war dagegen sehr pessimistisch und befürchtete die Katastrophe, die dann wirklich am 4. Juni 1989 eintrat.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 239 ff – Georg Iggers