Viel Neues, das im Verlaufe unseres Lebens entstanden ist, begrüßen wir: Errungenschaften vor allem in der Medizin, aber auch bei Verkehrsmitteln und technischen Geräten, die das tägliche Leben erleichtern, und nicht zuletzt soziale und politische Fortschritte. Dennoch, wenn ich über unser eigenes privates Leben hinaussehe, sehe ich wenig Grund dafür, optimistisch zu sein. Kann man wirklich darauf vertrauen, dass in all den vielen Krisenregionen der Welt eines Tages Friede einkehren wird und dass die Mega-Vernichtungsmittel, zu denen immer mehr unverantwortliche Regierungen und Personen Zugang bekommen haben, nicht auch benützt werden? In der menschlichen Natur steckt viel Aggressivität, die mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technologie umso gefährlicher geworden ist.
Der 11. September 2001 hat uns deutlich gezeigt, wie prekär der Frieden ist. Der Kalte Krieg ist Gott sei dank zu Ende, aber die Kluft zwischen Arm und Reich und die religiösen und kulturellen Gegensätze, die in einer modernen aufgeklärten Welt keinen Platz mehr haben dürften, haben die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt und Terror noch verstärkt. Der Kontrast zwischen dem sprichwörtlichen Optimismus der Amerikaner und der Unsicherheit und Angst vor weiteren terroristischen Anschlägen ist derzeit groß und weit davon entfernt, verarbeitet zu werden. Der Staatsstreich, mit dem uns in den USA ein Präsident beschert wurde, der ganz klar die Wahl verloren hatte, stimmt mich nachdenklich und lässt mich um die Stabilität der amerikanischen Demokratie fürchten. Der 11. September wäre ein Grund, die Richtlinien und Praktiken der amerikanischen Außenpolitik, die zu den terroristischen Anschlägen mit beigetragen haben, zu überprüfen. Genau das wird aber von der Welle des Patriotismus in Amerika verhindert.
Als ich noch sehr jung war, glaubte ich an einen moralischen Fortschritt. Diesen Glauben habe ich schon lange nicht mehr. Heute bange ich um unsere Enkel, die in dieser Welt voller Angst und Aggressionen aufwachsen müssen.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 309 f – Wilma Iggers