Meine ganze wissenschaftliche Arbeit, wenn man sie so nennen will, beruht auf meiner Liebe zu der und meiner Neugier auf die Welt, aus der ich stamme. Sie ist vor allem ländlich, sanft hügelig, mit Bergen am Horizont. Gesprochen wurde in Bischofteinitz mehr Deutsch, in Taus Tschechisch und in Blisowa, etwa fünf Kilometer von Bischofteinitz entfernt, wo Onkel Leo und Tante Ida wohnten, halb und halb. Es gab zwischen den Nationalitäten Probleme, aber die schienen nicht bedrohlich zu sein und wären es ohne die Nazis auch nicht geworden. Bis heute spitze ich die Ohren, wenn ich irgendwo in der Welt Tschechisch sprechen höre, und freue mich, wenn ich Leute Deutsch sprechen höre und errate, dass sie vor 55 Jahren aus dem Egerland gekommen sind. Auf beides kann ich zornige Reaktionen von der jeweils anderen Nationalität erwarten: »Weißt du denn nicht, dass sie uns vertrieben haben?« - »Ja doch, ich bin ja auch vertrieben worden.«
Viele Jahre habe ich Texte gesammelt, die über die Juden in den böhmischen Ländern berichten: wie sie lebten, wie sie dachten und wie die anderen auf sie reagierten. Ich kann nur wenig Hebräisch und fing darum mit dem achtzehnten Jahrhundert an, der Zeit, in der nur noch religiöse Dokumente auf Hebräisch verfasst wurden. Lange Zeit wusste ich nicht, was daraus werden sollte. Ganz allmählich kristallisierte sich der Plan einer Sozial- und Kulturgeschichte der Juden in Böhmen und Mähren heraus, nicht im üblichen Sinn, sondern in Form einer Sammlung zeitgenössischer Texte der verschiedensten Art, die nur mit Einleitungen, Anmerkungen und einem Glossar von mir ergänzt werden mussten. Das Schwerste war, Texte zu kürzen oder ganz wegzulassen. Anders als richtige Historiker hatte ich am Anfang keine These, die es zu beweisen galt, aber schließlich bekam das Buch doch eine: Die Juden in den böhmischen Ländern hätten gar keine Möglichkeit gehabt, es allen, den Tschechen und den Deutschen, recht zu machen. Wenn sie bescheiden lebten, wurden sie als geizig beschimpft, wenn sie - die, die es sich leisten konnten - sich einen hohen Lebensstandard gönnten - dann waren sie eben protzig. Und so weiter.
Quelle: Zwei Seiten der Geschichte, S. 289 – Wilma Iggers